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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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das Gespräch beenden wollte.
    «Ich weiß, was das heißt.»
    «Viel Spaß im Club, und richte Arlene bitte herzliche Grüße aus.»
    «Mach ich. Grüß die Sanners von mir.»
    Als sie aufgelegt hatte, ließ sie Rufus raus und hörte sich die CD noch mal von vorn an. Rufus zerkaute seinen Hundekuchen, schlabberte Wasser aus seinem Napf und watschelte wieder nach oben. Während des düsteren Eingangsthemas läuteten Kirchenglocken, und sie stellte sich die Kathedrale vor, die kahlen, über die Kanzel ragenden Eiben, den himmelwärts strebenden Kirchturm. Unten lagen irgendwo die Alben mit den Fotos von jenem und vom folgenden Tag, an dem es geregnet hatte, und der Pub, den ihnen Louise empfohlen hatte, geschlossen gewesen war. Als die Hörner erklangen und dann der Chor einsetzte, blickte Emily blinzelnd von ihrem Land’s-End-Katalog auf, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern, das ihr nicht einfallen wollte, doch die Musik war jetzt bloß noch Musik, eine Aufnahme von Stimmen und Orchesterpauken, die aus der Stereoanlage dröhnten. In dem Katalog gab es nichts, was sie haben wollte. Die Models wirkten so selbstgefällig, als hätten sie eine bequemere Lebensweise entdeckt. Sie blätterte die Seiten durch und fragte sich, wann Margaret anrufen, ja, ob sie sich überhaupt melden würde.
     
    Die Ballkönigin
     
    Beim Anziehen für den Club mühte sich Emily mit ihrer Jadehalskette ab. Das Kinn an die Brust gedrückt, die Arme hinter dem gesenkten Kopf, beugte sie sich über ihren Frisiertisch und versuchte blind, den Verschluss aufzubekommen und ihn in die winzige Öse einzuhaken. Bei jedem misslungenen Versuch stieß sie seufzend den angehaltenen Atem aus. Letztendlich würde es klappen - wie immer. Doch sie fand ihre verkrampfte Haltung und ihre Unbeholfenheit erniedrigend. Im Lauf der Jahre hatten Henry und sie diesen Moment zu einer Zeremonie erhoben. Sie hatte ihn nie bitten müssen. Bei formellen Anlässen wie heute Abend hatte er wie ein Kammerdiener hinter ihr gestanden und gewartet, bis sie mit dem Schminken fertig war. Sie hatte gesehen, wie er sie im Spiegel anhimmelte, und obwohl sie die Bewunderung ihrer Schönheit stets abtat - da sie einer wesentlich jüngeren Frau galt -, verließ sie sich darauf und lernte, während die Jahre vergingen, die heilsame Kraft seiner Erinnerung zu schätzen. Niemand anders hatte sie so gesehen wie er. Er hatte die achtzehnjährige Bademeisterin, die sie damals war, die modische Studentin, die ausgelassene junge Mutter gekannt. Wenn er den Verschluss befestigt hatte, beobachtete er, wie sie die Kette hoheitsvoll auf der Brust zurechtrückte, beugte sich dann, die Hände auf ihren Schultern, vor und küsste sie auf den Hals, bis sie die Augen schloss. «Hör auf», sagte sie dann.
    «Womit?»
    «Mit dem, was du gerade tust.»
    «Was tue ich denn?»
    «Du sorgst dafür, dass wir zu spät kommen.»
    «Ich bin so weit.»
    «Das sehe ich.»
    Als es ihr jetzt endlich gelang, die Halskette zuzuhaken, und sie sich wieder aufrichtete, erwartete sie fast, ihn hinter sich stehen zu sehen. Sie zog die Kette straff, hielt inne, während sie aufblickte, und musterte ihr Gesicht, als wäre es fremd und faszinierend.
    Der Lichtschein vom Frisiertisch war gnadenlos. Die Vertiefungen unter ihren Augen waren runzlig, fast lichtdurchlässig, lila wie Blutergüsse. Um ihren Mund zogen sich tiefe Falten, die Haut war mit beigefarbenen Flecken gesprenkelt, die Auswirkung von zu viel Sonne. Ein Flaum feiner Härchen säumte nicht nur ihre Oberlippe, sondern - wie sie im Licht der nackten Glühbirnen sah - auch Wangen und Kinn. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn und wandte den Blick ab, bevor sie das Licht ausknipste.
    Das Bild ließ sie auch nicht los, als sie den Lippenstift und die Papiertaschentücher in ihre Handtasche packte. Ihr Haar war dünn und spröde, nur durch die häufigen Friseurbesuche noch halbwegs ansehnlich. Ihr Körper - einst ihr ganzer Stolz - war schon seit langem schlaff und flach. Sogar ihre perfekte Haltung hatte sie eingebüßt, da ihre Knochen und Sehnen unzuverlässig geworden waren. Wenigstens konnte sie sich noch immer gut anziehen. Unten überprüfte sie das noch mal im Dielenspiegel, vermied jedoch, ihr Gesicht zu betrachten.
    «Was meinst du?», fragte sie Rufus. «Werde ich zur Ballkönigin erkoren?»
    Er sah sie besorgt an. Er hatte wässrige Augen, und sie nahm ein Papiertaschentuch und wischte ihm den Schleim aus den Augenwinkeln.
    «Ich weiß, es

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