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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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richtete sich zum Beweis mit der eleganten Handbewegung eines Models auf.
    «Du hörst dich immer noch schrecklich an.»
    «Es ist nur noch eine Pille übrig.»
    Arlene blieb skeptisch. Betty kannte die Situation, und die beiden beobachteten Emily den ganzen Tag über, als wollten sie sie prüfen. Emily gab vor, die musternden Blicke zu ignorieren, und nutzte die seltenen Momente, in denen sie allein war, dazu, sich auszuruhen und sich wieder zu sammeln. Gemeinsam brachten sie den Baum und den Müll an den Bordstein hinaus und verstauten den Weihnachtsschmuck wohlbehalten im Keller.
    Am Ende des Tages teilte Arlene Betty die Rolle einer neutralen Beobachterin zu und bat sie um einen Schiedsspruch, aber da Betty schon viele Jahre für die beiden arbeitete und sich wünschte, dass es dabei blieb, weigerte sie sich, Partei zu ergreifen.
    «Ich glaube, Sie sind noch nicht hundertprozentig gesund», sagte sie, «aber das wird schon.»
    Emily bezahlte Betty, sie brachten sie gemeinsam zur Tür, und danach spielte sich in der Diele zwischen ihr und Arlene eine unangenehme Szene ab. Arlene, die bemüht war, ihre Pflicht zu tun, wollte noch bleiben und das Abendessen zubereiten. Emily, erschöpft, weil sie sich den ganzen Tag zusammengerissen hatte, wollte, dass sie ging, damit sie in Ruhe in einen Sessel sinken konnte. Rücksichtsvoll zog sie Arlenes Angebot in Betracht, als könnte sie es annehmen - denn sie war wirklich dankbar, und Arlene war ein Schatz gewesen -, aber sie hatte nicht den ganzen Tag gekämpft, um dann doch auf ihre Unabhängigkeit zu verzichten, und sagte behutsam: «Vielen Dank, aber ich glaube, ich komme selbst zurecht.»
    «Okay», sagte Arlene widerstrebend - oder, wie sich Emily vorstellte, doch eher mit Erleichterung? «Aber du musst was essen.»
    «Mach ich.»
    «Ich rufe morgen an, um zu sehen, wie’s dir geht.»
    «Brauchst du nicht.»
    «Das weiß ich.»
    Emily griff in den Wandschrank, reichte ihr die Jacke und half ihr, die Ärmelöffnung zu finden. «Lass mich Margaret anrufen.»
    «Man kann mir vieles vorwerfen, aber ich bin kein Klatschmaul.»
    «Das habe ich doch gar nicht gesagt.»
    «Sie ruft mich sowieso an, sobald ihr aufgelegt habt.»
    «Um mich zu kontrollieren.»
    «Sie macht sich Sorgen um dich - aus gutem Grund.»
    «Vertauschte Rollen.»
    «Ich glaube, wir haben einen Punkt in unserem Leben erreicht, an dem wir uns um jeden Sorgen machen.»
    Der Gedanke ließ sie nach Arlenes Abschied nicht los, wie ein Telefon, das in einem stillen Haus klingelt. Obwohl sie alle allein lebten, und zwar gern, machten sie sich gleichermaßen Sorgen umeinander. Warum hatten sie so lange gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen? Hätte es nicht schon immer so sein sollen?
    Sie machte ihre Kehle mit Honig geschmeidig und übte, mit normaler Stimme zu sprechen, bevor sie Margaret anrief, die erstaunt zu sein schien, von ihr zu hören. Sie sei froh, dass es Emily besser gehe.
    «Arlene war eine große Hilfe», sagte Emily. «Danke, dass du sie auf mich angesetzt hast.»
    «Das war ganz allein ihre Idee.»
    «Ganz allein.»
    «Zumindest fast.»
    «Also, vielen Dank.»
    «Nichts zu danken. Jetzt musst du dich in Zukunft bloß gesünder ernähren.»
    «Mach ich, mach ich», sagte Emily.
    Zum Abendessen wärmte sie einen Teller mit Resten auf, hatte aber keinen Hunger und schabte das meiste letztlich in den Müllschlucker. Nach all ihren Versprechungen hatte sie ein schlechtes Gewissen. Selbstsüchtig und hinterlistig, hätte ihre Mutter gesagt - schlimmer ging es nicht, das völlige Gegenteil zu Jesus Christus, dem unerreichbaren Vorbild, an dem Emily in ihrer Kindheit immer gemessen worden war und für den sie dennoch, genau wie für ihre Mutter, eine anhaltende Liebe empfand. Sie vermisste auch den Baum mit den schönen Lichtern, die Krippe und die Zweige auf dem Kaminsims, als spräche die ganze heutige Arbeit jetzt gegen sie. Hatte sie nicht bekommen, was sie wollte? Ihre Wunden, wenn es denn welche gab, hatte sie sich selbst zugefügt, und statt das unangebrachte Gefühl zu hegen, sie sei das Opfer einer Ungerechtigkeit, ließ sie Rufus nach draußen und ging, in der Absicht zu lesen, unziemlich früh ins Bett. Der Hardy war nicht besser als vorher, und trotz der Live-Übertragung vom Philadelphia Orchestra döste sie bei brennendem Licht ein und verpasste den Schluss von Schuberts Unvollendeter Symphonie.
    Am nächsten Morgen fühlte sie sich erstmals seit einer Woche ausgeruht. Sie bestrich ihren

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