Emily, allein
heuchlerisch. Ihre alberne Hippielogik ging Emily auf die Nerven, und obwohl sie und Henry sich in diesem Punkt einig waren, mussten sie mit Margaret größere Kämpfe ausfechten, was bedeutete, dass Emily in dieser Zeit des Jahres stets einen Anruf von ihrer Mutter erhielt (sie könne nicht lange reden - das sei zu teuer), bei dem ihr diese mitteilte, sie habe Kenneths hübschen Dankesbrief erhalten.
Der Schwung Briefe, den Emily jetzt versandte, legte inzwischen größere Strecken zurück, als sei ihr Lebensumfeld größer geworden, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, es beschränke sich auf dieses Haus, dieses Zimmer, diesen Augenblick. Obwohl sie es sich von ganzem Herzen wünschte, würde sie nie Ellas Wohnung in Cambridge sehen oder ihre Freundin Suzanne kennenlernen. Dasselbe galt für Sarah und ihren Verehrer in Chicago und Justin und Sam am College. Deren Leben lag außerhalb ihrer Reichweite, genau wie bei ihr damals, als sie an der Pitt University von Tante June jeden Monat einen Scheck über fünf Dollar erhalten hatte, zusammen mit einem Brief, in dem sie ausführlich die Eskapaden von Chester, ihrer siamesischen Katze, beschrieb und Emily über die Fortschritte der neuen Autobahn, die durch DuBois führte, informierte. Emily hatte jene Schreiben von zu Hause getreulich beantwortet, aber mit Platitüden - munterem Geplauder von Seminaren und Tanzabenden statt von dem, was sie wirklich tat. Und warum? Bloß aus Faulheit und einer überheblichen Vorstellung von Privatsphäre, als könnte Tante June in ihrem mottenzerfressenen Nerz mit Chester in der Hand bei ihrer Studentinnenvereinigung auftauchen und dort übernachten wollen.
Ein Dankesbrief war doch nicht zu viel verlangt - ganz im Gegenteil. Vielleicht lag es an ihrem Alter, doch in letzter Zeit erwartete sie die Briefe mit größerer Vorfreude, als sie sie für irgendein Geschenk aufbringen konnte.
Der erste kam erwartungsgemäß von Arlene, in ihrer eleganten Handschrift, auf Briefpapier mit Monogramm. Arlene hatte ihn Emily während ihrer Genesung mit der übrigen Post selbst ans Bett gebracht. Die Höflichkeit erforderte, dass Emily sagte, Arlene hätte sich die Briefmarke sparen können, obwohl beide wussten, dass so ein verkürztes Verfahren unschicklich gewesen wäre. Trotz all ihrer Fehler hatte Arlene, genau wie Henry, tadellose Manieren. Damals, 1951, bei ihrem ersten Abendessen im Club war Emilys Mutter davon beeindruckt gewesen, wie kultiviert die Maxwells als Familie waren, ihr Sinn für Etikette viel wichtiger als ihr Geld, doch ihr Vater, der eingeschüchtert war und sich unbehaglich fühlte, hatte im Wagen gesagt, beides zusammen sei doch keine schlechte Kombination.
Der zweite Brief, der eintraf, als es Emily schon besser ging, stammte von Lisa, ebenfalls auf Papier mit Monogramm (ein Geschenk von Arlene), in säuberlicher Schrift, aber ohne Gefühl. Wie zur Wiedergutmachung schloss Kenneths Brief, der einen Tag später folgte, mit den Worten Mit herzlichen Grüßen von uns allen und führte nicht nur ihn, Lisa und die Kinder auf, sondern auch Muttly und Fenway, ihre beiden Golden Retriever, komplett mit gezeichneten Pfotenabdrücken.
Der von Margaret folgte nur wenig später, ein ausgewachsener Brief, keine Überraschung, da ihre neuen Ideale Kommunikation und Dankbarkeit über alles stellten. Sie bedankte sich für Emilys Gastfreundschaft, für die Flugtickets, für ihre Geschenke und zu guter Letzt für ihr gutes Gespräch, das sie offenbar anders in Erinnerung hatte - auch das kein Schock, weil alles, was ihr jetzt passierte, aus einem Grund passierte und deshalb positiv, als ein Gottesgeschenk aufgenommen werden müsste, vermutlich auch Emilys Tod.
Sie dachte, Ellas oder vielleicht auch Sarahs Brief würde als Nächstes eintreffen, denn ihr Vorurteil gegenüber den Jungen wurde zumeist bestätigt, doch tagelang kam nur wenig Post, und wenn, dann nichts Persönliches. Ihr Briefkasten war schon alt, ein schmiedeeisernes Gehäuse, an den Backsteinen festgeschraubt und so dick mit schwarzem Rust-Oleum beschichtet, dass die offene Rosette, durch die man einen Umschlag im Innern sehen konnte, zugekleistert war. Kurz vor Mittag hörte sie den Deckel zuklappen, doch als sie hinausging und der Kälte trotzte, musste sie feststellen, dass der Kasten leer war, der Briefträger eine Ausgeburt ihrer Phantasie.
Eine Woche verstrich, dann auch das Wochenende. Montag war der Vierzehnte. Sie war sich des Datums schmerzlich bewusst, denn
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