Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
Toast mit Butter und Himbeermarmelade und träufelte Honig in ihre Teetasse. Nach dem Frühstück nahm sie ihre letzte Pille ein und warf das Fläschchen in den Küchenabfall, als wollte sie ihren Sieg kundtun.
    Während sie sich oben die Zähne putzte und an den zur Straße liegenden Fenstern auf und ab ging, erwartete sie fast, Arlene in ihrem Taurus vorfahren zu sehen. Nach dem läuternden nächtlichen Schlaf war Emily enttäuscht, dass Arlene sich ohne Murren hatte wegschicken lassen. Das Haus war makellos sauber, doch sie musste zur Bank, zum Postamt und zum Lebensmittelgeschäft - und wenn sie Zeit hatte, auch noch zur Bücherei. Stattdessen werkelte sie zu ihrer Verwunderung und Enttäuschung im Erdgeschoss herum und wartete auf einen Anruf von Arlene, als könnte nur sie Emily aus dem Haus entlassen.
     
    Undankbarkeit
     
    Jedes Jahr fand derselbe aufreibende Pas de deux statt, mit nur ganz geringfügigen Abweichungen. In der Woche nach Weihnachten schrieb Emily ihre Dankesbriefe, schickte sie ab und erwartete - wenn nicht sofort, so doch zumindest bald -, eine ähnliche Anzahl zu erhalten.
    Diese Gewohnheit, durch ihre Mutter fest in ihr verankert, war mehr als eine nette Geste und spiegelte gleichsam die Bande der Liebe und Achtung wider, auf die alle Beziehungen angewiesen waren. Als Kind hatte Emily ganze Nachmittage damit verbracht, ihre Dankesbriefe zu entwerfen und an die verschiedenen Familienzweige der Waites und Bentons in Brandy Camp, Elbon und Dagus Mines zu schreiben, wobei sie sich bemühte, die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt und tief über ihren Schreibtisch gebeugt, ihre preisgekrönte Schönschrift zu Papier zu bringen. Das waren die Kriegsjahre gewesen, als ihre Familie nicht viel besessen hatte und jedes Geschenk etwas Besonderes war. Vielen Dank für das Armband. Es ist wunderschön. Ich werde es zu meinem blauen Kleid tragen. Allein zu hören, wie Tante June sich über ihre Karte gefreut hatte, war ein Geschenk gewesen.
    Als Mutter hatte Emily diese Vorgehensweise beibehalten und das Ganze beaufsichtigt, hatte den Kindern alles ins Gedächtnis gerufen und ihnen die Adressen und Briefmarken gegeben. Beim Geschenkeauspacken war es Kenneths Aufgabe aufzuschreiben, was jeder von ihnen bekommen hatte und von wem, und ehe sie das Geschenkpapier in eine Tüte packten und die Sachen nach oben brachten, teilte sie ihnen mit, was sie von ihnen erwartete.
    Henry, ihr Partner in der übergeordneten Körperschaft Mr. und Mrs. Henry Maxwell, stets repräsentiert von Emily, wurde mit dieser Aufgabe nicht belastet, so wie er auch für niemanden außer ihr Weihnachtsgeschenke besorgen musste. Er war für das Handwerkliche (Kamin anzünden, den Baum, die Eisenbahn und die Beleuchtung herrichten und alles wieder abbauen) und für das Finanzielle zuständig (alles bezahlen), während sie sich um Haushalt und Gesellschaftsleben kümmerte und ihn mit keinen weiteren Aufgaben belastete - aber das war selbst auferlegt, ein Überbleibsel aus der Zeit ihrer Mutter.
    Kenneth, der Gehorsame, war mit seinen Dankesbriefen schon fertig, bevor Margaret ihre auch nur angefangen hatte, doch seine waren schludrig geschrieben, als hätte er es nur möglichst schnell hinter sich bringen wollen. Aufgrund umfangreicher Lehrplanänderungen in den frühen siebziger Jahren wurde an den Schulen in Pittsburgh Schreiben nicht mehr unterrichtet, und seine Handschrift war nicht besser geworden. Das Gekrakel eines Fünfjährigen mochte entzückend sein, aber das galt nicht mehr für einen Fünftklässler, und als Kenneth älter wurde, überprüfte Emily seine Bemühungen wie eine Lehrerin, die Hausaufgaben korrigiert, und schickte ihn meistens zu seinem Schreibtisch zurück, woraufhin die Sache dermaßen anstrengend und unangenehm wurde, dass er schon die Erwähnung von Dankesbriefen mit einem Stöhnen aufnahm - ein Fehler, da sie das in Rage brachte, was die Situation nur verschlimmerte. Manchmal bekam er Stubenarrest, bis sie seine Arbeit für angemessen erachtete.
    Margaret war das Ganze einfach egal. Dankesbriefe gehörten in dieselbe Kategorie nutzloser Formalitäten, denen ihre spießigen Eltern blind folgten, wie sich zu genau festgelegten Zeiten zum Essen an den Tisch zu setzen oder sonntags in die Kirche zu gehen. Schenken sollten die Leute, weil es ihnen Freude machte. Verpflichtung und Schuldgefühl sollten nicht im Spiel sein. Für ein Geschenk, das einem nicht gefiel, einen Dankesbrief zu schreiben, sei

Weitere Kostenlose Bücher