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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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am nächsten Tag musste bis Mitternacht der geschätzte Steuerbetrag bezahlt sein. Inzwischen waren drei Wochen verstrichen. Als der Briefträger Justins Briefchen brachte, füllte sie gerade sorgfältig die Schecks fürs Finanzministerium aus.
    Es war genau, was sie erwartet hatte: drei Zeilen in schräger Blockschrift, eine Liste der Kleidungsstücke, um die er nicht gebeten hatte, alles Gute zum neuen Jahr, und ganz unten seine schnörkelige Unterschrift. Die Briefmarke war schief aufgeklebt, der Umschlag in Silver Hills abgestempelt, das hieß, dass er die beschwerliche Aufgabe als Letztes erledigt hatte, bevor er zum College aufgebrochen war. Das war in Ordnung - es war alles, was sie wollte, ein schlichtes Zeichen der Dankbarkeit. Vielleicht gab sie ihm sogar Pluspunkte, weil er seiner Schwester zuvorgekommen war.
    Am nächsten Tag kam nichts, und während sie im Postamt in der Schlange wartete, betrachtete sie das Verkaufsregal mit überteuerten Geschenkartikeln zum Valentinstag und stellte sich vor, wie die Kinder sich fühlen würden, wenn sie ihnen versuchsweise mal keine Karte schickte. So unhöflich das auch sein mochte, es könnte ihnen eine Lektion erteilen, doch wahrscheinlicher war, dass es ihnen nichts ausmachte und Emily sich ins eigene Fleisch schneiden würde. Wie Margarets Gegensätzlichkeit zeigte, konnte man niemanden zur Dankbarkeit zwingen.
    Dass es am Martin Luther King Day keine Post gab, wusste sie, dann vergaß sie es aber und erinnerte sich erst wieder daran, als die Post längst überfällig war, wovon sie schlechte Laune bekam. Sie verstand Sam, aber Ella? Und Sarah? Waren ihre Briefe vielleicht während ihrer Krankheit eingetroffen und verlorengegangen?
    In vier Tagen war bereits ein Monat verstrichen - wirklich mehr als genug Zeit. Arlene fand das auch, denn sie hatte dasselbe Problem. Betty pflichtete ihr bei und nickte voll Mitgefühl.
    Konnte Emily so lange den Mund halten? Denn es war nicht Arlenes Aufgabe, ihren Kindern auf die Sprünge zu helfen. Es waren Emilys Kinder, also auch ihre Aufgabe. Sie dachte an ihre Mutter und ihre eigenen Probleme mit Margaret, an die unabänderliche Vergangenheit, und wünschte sich, dass sie, bloß ein einziges Mal, nicht anrufen müsste. Aber wie jedes Jahr tat sie es dennoch.
     
    Vergesslichkeit
     
    Als Emily am Nachmittag auf dem Weg in die Küche aus einem dringenden Grund einen Umweg durchs Esszimmer machte, sah sie, dass Rufus in der Kälte in Habachtstellung hinten auf der Treppe saß und verzweifelt durch die Verandatür spähte.
    «Hat dich jemand vergessen? Ist es das? Tut mir leid, Boo-Boo. Ich weiß nicht, wo ich heute mit meinen Gedanken bin. Nächstes Mal musst du dich melden.»
    Und als später das Toilettenpapier unten im Bad aufgebraucht war, warf sie die goldene, mit einer Sprungfeder ausgestattete Stange in den Müll und hielt die leere Papprolle fest.
    «Also im Ernst», sagte sie und betrachtete den unwiderlegbaren Beweis in ihrer Hand, als hätte ihr irgendwer einen Streich gespielt, der nicht lustig war.
     
    Mystery!
     
    Im Gegensatz zu Arlene und den Kindern fand Emily das Fernsehen uninteressant. Sie hatte die unbeholfenen Anfänge miterlebt und war sechzig Jahre später immer noch unbeeindruckt. Kein technischer Fortschritt konnte verschleiern, dass es ein unseriöses Medium war, eine träge Art des Zeitvertreibs - Kaugummi für den menschlichen Geist, wie irgendein Witzbold einmal gesagt hatte. Manchmal hatte sich Henry samstagnachmittags vor den Fernseher gehockt, um sich ein paar Innings des Pirates-Spiels anzuschauen, doch meistens hatte er sich unten im Keller Bob Prince im Radio angehört, als Geräuschkulisse für die jeweilige Arbeit, in die er gerade vertieft war. Vor dem Abendessen hatten sie sich vielleicht Huntley und Brinkley angeschaut, wo der zusammenhanglose Anfang des Scherzos aus Beethovens Neunter die ähnlich chaotischen Nachrichten des Tages ankündigte, doch anders als die Kinder hatten sie keine Lieblingssendungen, und als das Kabelfernsehen in Highland Park Einzug hielt, waren die Kinder schon aus dem Haus, und Emily sah nicht ein, warum sie für etwas bezahlen sollte, das sie auch kostenlos empfangen konnten.
    Die einzige Ausnahme von diesem kategorischen Urteil stellte PBS dar, dessen Masterpiece-Theatre-Miniserien durchweg sehenswert waren. Woche für Woche, Jahr für Jahr, sah sie sich zusammen mit Louise bei ein, zwei Gläsern Chablis die achtteilige Verfilmung von Middlemarch, Der

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