Emily, allein
Bürgermeister von Casterbridge oder Die Abtei von Northanger an und versank mit Leib und Seele in der vertrauten Welt des viktorianischen Englands, wo die weitläufigen Herrenhäuser von Efeu überwuchert und mit Kerzen erleuchtet waren und unter den prachtvollen Kostümen, in Korsetts eingezwängt, das Verlangen pulste.
Als junges Mädchen hatte sie, genau wie ihre Mutter, Hardy und die Bronte-Schwestern geliebt und sich im heruntergekommenen Kersey nach edler, herzerschütternder Leidenschaft gesehnt. Jetzt, grauhaarig und in mittlerem Alter, erinnerte sie sich beim Fernsehen an jene stillen Stunden, in denen sie hinterm Sofa auf dem Bauch gelegen hatte, auf die Ellbogen gestützt, versteckt in dem warmen Spalt bei der Heizung, die Füße in die Luft gestreckt, die Knöchel zwischendurch immer wieder gekreuzt, das Buch flach auf dem Teppich. Schon damals hatten die Filme sie fasziniert. Mit dreizehn hatte sie sich vorgestellt, dieselben prächtigen Ballsäle und Salons zu betreten und durch dieselben zweiflügeligen Fenster wie Vivien Leigh oder Merle Oberon die Kutsche von Laurence Olivier wegfahren zu sehen.
Wie faszinierend die Romantisierung der Vergangenheit war und wie traurig, all die verpassten Möglichkeiten, obwohl alles gut ausgegangen war. Ebenfalls ein Landei und eine Außenseiterin, hatte sie wie diese zaghaften Heldinnen unschuldig und unvorbereitet Eingang in die vornehmen Kreise gefunden und trotz lähmender Selbstzweifel ihren Weg gemacht. Diesen Teil ihres eigenen Lebens jetzt im Nachhinein in diesen jungen Frauen widergespiegelt zu sehen, war bittersüß - durch seine Verwirklichung war der Traum vorbei. Wenn es für sie und Louise noch eine Rolle in diesen historischen Filmen gab, dann war es nicht mehr das sehnsuchtsvolle naive Mädchen, sondern das treue Faktotum, Miss Haversham oder Mrs. Fotheringill, gespielt von einer schrumpeligen Charakterdarstellerin oder einer verblühten älteren Dame, deren plötzliche Krankheit die rivalisierenden Schwestern zwingen würde, ihren Streit beizulegen und sich zusammenzuschließen, und doch konnte sich Emily nicht überwinden, sich mit etwas anderem als einer Hauptrolle zufriedenzugeben, nach all den Jahren immer noch empfänglich für die Rezeptur der Sehnsucht (Alter schützt vor Torheit nicht, hatte ihre Mutter immer gesagt).
Ein weiteres, nicht so anspruchsvolles britisches Importprodukt, das sie sich gern anschauten, war Mystery! mit dem Vorspann von Edward Gorey und den klugen Persiflagen auf Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, die auf Emilys Regalen im Schlafzimmer beide einen Ehrenplatz hatten. Während sie jegliche Gewalt abstoßend fand, war ein guter Mord ganz nach ihrem Geschmack. Sie und Louise liebten Rätsel und machten ein Spiel daraus, Miss Marple und Lord Peter Whimsey stets einen Schritt voraus zu sein, falsche Spuren zu erkennen und Verwicklungen zwischen den Verdächtigen zu entwirren. Die Welt der zwanziger Jahre war genauso elegant wie die der edwardianischen Zeit, mit Jagdgesellschaften, Tourenwagen und glänzenden Eisenbahnwagen, ganz anders als der nach Zigarren und Schimmel stinkende Waggon, den sie und Henry von York nach London ertragen mussten. Es war eine Traumwelt, ein Ort, an dem sich Verstand und eine einfache moralische Logik durchsetzten, und während das übrige Pittsburgh montags immer wie angewurzelt vor einem Footballspiel saß, überließen sie und Louise sich bereitwillig dieser Welt.
Später wurden die bei Mystery! gezeigten Filme moderner und umfassten nicht nur die Kriegsjahre, eine Epoche, für die Emily noch ungenutzte Gefühle hatte, sondern auch das zeitgenössische England, mit dem sie nichts anfangen konnte. In einem unnötigen Zugeständnis an den Realismus wurden in diesen neuen Serien statt wogenden Wiesen und nebligen Heidelandschaften die düsteren Straßen von Arbeiterstädten wie Manchester oder Liverpool, eintönige Hochhäuser, heruntergekommene Sozialwohnungen und schmutzige Schnellrestaurants gezeigt. Die Geschichten waren eher Schilderungen der faden Polizeiarbeit als Krimis, fast schon amerikanisch. Die weiblichen Hauptfiguren waren Inspektorinnen in mittlerem Alter mit komplizierten Beziehungen, und bei den Verbrechen ging es stets um übergeordnete Probleme wie Drogen, Terrorismus oder Einwanderung. So sehr Emily auch Helen Mirren bewunderte, ihr fehlten der versteckte Humor und der muntere Schlagabtausch, und als PBS vor mehreren Jahren eine neue Staffel von Poirot-Filmen
Weitere Kostenlose Bücher