Emily, allein
war von Kindesbeinen an Stürme gewöhnt, die Straßen blockierten und die Stromversorgung unterbrachen, und war für alle möglichen Eventualitäten gewappnet, als sei Grafton Street 51 eine Farm in der Pionierzeit. Neben einem Kerzenvorrat in der Anrichte gab es in jedem Zimmer eine Taschenlampe. Wenn schlechtes Wetter vorhergesagt war, holte sie alle aus den Schubladen, überprüfte die Batterien und platzierte sie dann überall im Haus an strategisch wichtigen Orten, als bereite sie sich auf einen Angriff vor. Sie hielt Henrys altes Transistorradio griffbereit, für den Fall, dass die Behörden später lebensrettende Informationen sendeten. Sie besaß noch ein Telefon mit Wählscheibe, das in eine Anschlussdose gestöpselt wurde, damit sie im Gegensatz zu Arlene, deren schickes schnurloses in einem Notfall nicht funktionieren würde, auch ohne Strom anrufen konnte. Oben im Wäscheschrank bewahrte sie zusätzliche Flanellbettlaken und Wolldecken auf und eine Daunendecke. Im Keller befanden sich in einem mit Abklebband etikettierten Mülleimer ihre alten langen Unterhosen und ihre Skipullover, ihre letzte Verteidigungslinie. Derart gerüstet, wartete sie auf den Schneesturm.
Der deutlichste Hinweis auf einen bevorstehenden Sturm bestand darin, dass die Wetteransager plötzlich ganz aufgeregt waren. Schon ein paar Tage im Voraus wurden sie mitteilsam und lächelten wie Vertreter, als wären sie sich ihrer Sache ausnahmsweise absolut sicher. Wenn sich dann der Sturm näherte und in einer regenbogenfarbenen kubistischen Welle über die Prärie hinwegzog, wurden sie ernst und zählten Vorsichtsmaßnahmen auf, die Emily längst getroffen hatte, und dennoch legten sie sich nicht fest, sondern sprachen von fünf bis sechzig Zentimetern, abhängig vom Weg des Sturms und ihren verschiedenen Computermodellen. Sie würden nicht ihren Ruf aufs Spiel setzen, indem sie tatsächlich das Wetter vorhersagten, sondern überließen es Emily, sich das Schlimmste auszumalen.
Als Emily in die dritte Klasse ging, hatte ein schwerer Schneesturm Kersey eine Woche lang vom Rest der Welt abgeschnitten, gefolgt von einem Kälteeinbruch, und eine ältere Frau aus ihrer Kirchengemeinde, die außerhalb des Ortes wohnte, hatte in ihrem Haus festgesessen. Irgendwann ging ihr die Kohle zum Heizen aus, und sie griff auf ihren Holzstapel zurück. Schließlich ging sie dazu über, Stühle kaputtzuschlagen und sie im Kamin zu verheizen. Dem Schulhoftratsch zufolge wurde sie dort gefunden - in Decken gehüllt, aufrecht am Kamin sitzend, weiß wie eine Gipsbüste.
Nichts dergleichen würde passieren. Emilys Ängste waren inzwischen eher praktischer Natur - einfrierende und in der Wand platzende Rohre, Wasser, das durch die Wohnzimmerdecke dringt -, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr auch die schrecklichsten Möglichkeiten im Kopf herumgingen. Es gab eine ständig wiederkehrende Szene, die nicht allzu weither geholt war: dass sie hinten im Garten beim Auffüllen des Vogelhäuschens stürzte und dann im Schnee lag und krächzend um Hilfe rief. Sie verscheuchte den Gedanken, doch jedes Mal, wenn sie sich mit den Sonnenblumenkernen hinauswagte, mummte sie sich ein, als wollte sie die Antarktis durchqueren, und trat mit den Stiefeln vorsichtig in ihre alten Fußstapfen.
Wie die Wetteransager verfolgte sie gespannt die Kaltfront, während sie das Tal des Ohio River hinauffegte. Margaret sagte, der Sturm sei südlich an ihnen vorbeigezogen, und dennoch seien zehn Zentimeter Schnee gefallen.
«Sieht aus, als würden wir die volle Wucht abkriegen», sagte Emily mit seltsamem Stolz, als sei dieses Privileg Pittsburgh vorbehalten und die Stadt sei durch die Bedrohung zusammengerückt.
Die Kaltfront würde diese Nacht kommen, und der meiste Schnee würde zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens fallen, das war irgendwie unfair. Wenn sie schlief, konnte sie das Haus nicht schützen. Sie wäre gern aufgeblieben und hätte gesehen, wie der Schnee herabfiel, hätte gern beobachtet, wie er die Welt lautlos unter sich begrub, während sie selbst warm und trocken im Haus saß und im Keller unablässig der Heizkessel brummte. Doch stattdessen stapelte sie im Kamin ein paar Holzscheite und schob zusammengeknüllte Zeitungsblätter darunter, bevor sie ins Bett ging, für den Fall, dass sie später aufwachte und es im Haus kalt war. Sie dachte, dass sie bestimmt schlecht einschlafen könnte, döste aber sofort ein.
Am nächsten Morgen war die Straße ein Meer
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