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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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von Weiß, die Hecken der Millers unter der Last gebeugt, die Aste und die Telefonleitungen mit Schnee überzogen. Die Sonne schien, obwohl es immer noch fisselte. Im Zimmer war es kühl, aber nicht schlimmer als an anderen Tagen. Ihr Radio funktionierte, und das Licht im Bad brannte. Sie waren verschont geblieben, all ihre Vorkehrungen überflüssig. Sie kam sich ein bisschen töricht vor - wie Hühnchen Junior -, bis sie sah, dass auf dem Display der Mikrowelle STR stand, für Stromausfall. Die Unterbrechung konnte nicht lange gedauert haben, denn die Uhr am Herd zeigte die richtige Zeit an. Wahrscheinlich war es nur ein Flackern gewesen, nichts länger Anhaltendes, und obwohl es absolut nichts geändert hätte, war sie dennoch enttäuscht, dass sie es verpasst hatte.
    «Du wirst es nicht glauben, ich hab die ganze Zeit geschlafen», erzählte sie Kenneth ungläubig, als würde sie sich über sich selbst lustig machen, und als sie aufgelegt hatte, fragte sie sich, warum. Wollte sie ihm beweisen, wie sehr sie sich daran gewöhnt hatte, allein zu leben, oder versuchte sie, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen? Vielleicht beides. Als sie durchs Haus ging, die Schubladen auf- und zumachte und die Taschenlampen bis zum nächsten Mal wegräumte, quälte diese Frage sie noch immer.
     
    Grußkarte
     
    Es war ein Mittwoch, deshalb war Betty da, als der riesige rote Briefumschlag eintraf - der Beweis, sagte Emily, dass wenigstens ein Mensch an sie denke. Sie hatte allen vier Enkelkindern Valentinskarten geschickt, doch keines von ihnen hatte geantwortet.
    Auch jetzt noch nicht. Das war Kenneths Handschrift. Eine Popupkarte: Pu der Bär, der in gestreiftem Bienenkostüm an einer Traube Ballons hoch über dem Hundertsechzig-Morgen-Wald himmelwärts schwebte und von seiner tropfenden Tatze Honig ableckte. Kein Gruß und keine Nachricht, bloß Herzlich, Kenneth & Lisa. Emily fand es falsch, dass sie beim Anblick von Lisas Namen nach all den Jahren immer noch einen leichten Widerwillen verspürte. «Das ist lieb», sagte Betty.
    «Ich hatte eigentlich nichts erwartet», sagte Emily, denn es war wirklich eine Überraschung, und sie fragte sich, ob es etwas mit dem ganzen Fiasko bei den Dankesbriefen zu tun hatte. Sie stellte die Karte auf den Kaminsims, an dem sie oft vorbeikam, doch sie wurde kein Quell der Freude, sondern begann rasch, sie an ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu erinnern, und setzte sinnlose Selbstvorwürfe in Gang, bis Emily sie an einen abgelegeneren Ort brachte, auf die Anrichte im Esszimmer.
    Als sie Arlene am Sonntag zur Kirche abholte, sah sie auf deren Kaminsims eine ähnliche Karte. Darauf balancierte Ferkel wackelig auf Pus Schultern und versuchte, mit einem Stock an einem hängenden Bienenkorb herumzustochern. Statt mit Kenneths Blockbuchstaben war sie in Lisas mädchenhafter Schrift unterzeichnet - kein Zufall, dachte Emily. Als sie nach Hause kam, nahm sie ihre Karte von der Anrichte, faltete sie zusammen und legte sie in ihren Sekretär. Doch dann holte sie die Karte, ihrer Ansicht nach völlig zu Recht, wieder aus der Schublade, marschierte in die Küche und warf sie in den Müll.
     
    Eine schlechte Angewohnheit
     
    Rufus hatte den Schnee immer gemocht. Emily konnte an nicht allzu weit zurückliegende Tage erinnern, an denen er es morgens wie ein Kind kaum erwarten konnte, nach draußen zu kommen und im noch unberührten Garten herumzutollen, hin und her zu rennen und sich zu wälzen, sodass seine Schnauze überpudert war und er nach Feuchtigkeit stank, wenn sie ihn wieder hereinließ. Jetzt blieb er zögernd an der offenen Tür stehen und blickte sie traurig an - konnten sie diesen Teil nicht überspringen und gleich frühstücken? -, und dann entfernte er sich nur ein paar Schritte von der Veranda, um sein Geschäft zu verrichten. Er hob nicht mehr das Bein, als sei das zu anstrengend, sondern streckte bloß die Hüften vor, den Schwanz wie ein Flagge erhoben, und blickte sich um, während er seine Blase leerte.
    Er wollte nur noch fressen und schlafen, aber selbst bei diesen Lieblingsbeschäftigungen war er merklich langsamer geworden. Als Margaret Doctor Spot nach Chautauqua mitgebracht hatte, mussten sie ein Auge auf Rufus haben, damit er nicht in dessen Napf wilderte, nachdem er das Futter in seinem eigenen hinuntergeschlungen hatte. Doch in letzter Zeit kaute er jeden Bissen so vorsichtig, als hätte er Zahnschmerzen. Auch jetzt, in diesen dunklen Tagen, ließ er ihr keine Ruhe, wenn er

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