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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Buster, der ihr nach draußen gefolgt war, saß hoheitsvoll oben an der Treppe und schlug mit dem Schwanz. Emily nahm die Leine fester in die Hand, doch Rufus sah die beiden erst, als Emily Marcia grüßte - «Morgen»-, woraufhin Buster über den Rasen und dann die Einfahrt rauf in Richtung Garage rannte.
    «Wissen Sie irgendwas über diese?» Emily deutete hinüber, doch von der Veranda aus konnte Marcia nichts sehen.
    Sie gingen gemeinsam zu der fraglichen Platte und musterten sie, als könnte sie ihnen einen Hinweis geben.
    «Das ist seltsam», sagte Marcia.
    «Es kann noch nicht lange da stehen. Ich war die ganze Woche zu Hause und habe weder etwas gesehen noch gehört. Sie etwa?»
    Marcia bückte sich und prüfte mit dem Finger die Farbe. «Sie ist jedenfalls nicht mehr frisch.»
    «Von gestern, oder was meinen Sie?»
    «Wahrscheinlich. Aber ich weiß es nicht. Sie sagen, Sie haben sonst keine gesehen?»
    «Wir sind den gesamten Block abgegangen.»
    «Hmmh.» Marcia hob ein Knie und zog es an ihre Brust, dann das andere. Das wiederholte sie ein paarmal, eine eindrucksvolle Demonstration ihrer Gelenkigkeit. «Sie könnten bei der Stadt anrufen und fragen, ob da irgendjemand weiß, was es zu bedeuten hat.»
    «Das hatte ich auch vor.»
    «Ich muss los, aber geben Sie mir Bescheid, was man Ihnen gesagt hat.»
    «Mach ich», sagte Emily, beobachtete, wie Marcia mit schwabbelndem Hintern losjoggte, und dachte, dass sie selbst nicht den Mut hätte, so etwas in aller Öffentlichkeit zu tun.
    Im Haus füllte sie Rufus’ Wassernapf auf und gab ihm einen Hundekuchen, dann holte sie das Telefonbuch und setzte sich mit einer Orange und einer Tasse Tee, die blauen Seiten des Telefonverzeichnisses aufgeschlagen, an den Frühstückstisch, ließ den Finger an den Zahlenreihen entlanggleiten, drückte die 1 für Englisch, harrte in der Warteschlange aus und beobachtete, wie Buster hinten ungestraft kreuz und quer durch den Garten streifte. Sie nannte immer wieder ihren Namen und ihre Adresse und beschrieb die Markierung, nur um sich jedes Mal anhören zu müssen, dass man von einem bevorstehenden Projekt in der Grafton Street keine Kenntnis habe. Noch schlimmer war, dass die Leute, mit denen sie sprach, völlig desinteressiert wirkten, als vergeude Emily deren Zeit - dabei war es umgekehrt. Sie notierte sich, bei welchen Ämtern sie anrief, doch obschon sie einen großen Teil des Morgens darauf verwendete, konnte ihr letztlich niemand sagen, zu wem die Zahl gehörte.
    Wenn sich niemand dafür interessiert, dachte sie rachsüchtig, dann hat auch niemand etwas dagegen, wenn ich die Zahl mit Drahtbürste und Säurebad wegschrubbe oder sie mit Henrys starker Schleifmaschine bearbeite. Was sollte sie davon abhalten? Es war ihr Grundstück. Doch obwohl sie der Überzeugung war, dass sie als Hausbesitzerin das Recht dazu habe, befürchtete sie, eine so unbesonnene Tat, die leicht mit Vandalismus verwechselt werden konnte, würde ein Nachspiel haben. Vom Fenster aus konnte sie die Markierung sehen. Genau wie der Kratzer an ihrem Wagen ließ ihr die Zahl keine Ruhe und verwandelte sich rasch in einen Stachel, eine Kränkung. Von diesem Augenblick an reckte sie sich zehn-, zwanzigmal über die Heizung und schob die Vorhänge beiseite, um sich zu vergewissern, dass die Zahl noch da war, als könnte sie auf magische Weise von selbst verschwinden.
     
    Der schlimmste Monat
     
    Emily kannte diese tristen grauen Tage nur zu gut, den letzten Rest eines weiteren Pittsburgher Winters, der Himmel wie Ruß über den Dächern. Der Frühling war schon ganz nah - die Warterei kaum auszuhalten. Sie wünschte sich bloß, nach draußen zu gehen, in ihren Blumenbeeten herumzuscharren und einen Blick unter die Mulchdecke zu werfen, um zu sehen, was herausgekommen war - ihre Belohnung für all die harte Arbeit im Herbst -, doch das Wetter spielte nicht mit. Auf ihre Krokusse fiel Schnee, der sie ganz unter sich begrub, Busters Spuren eine durch den Garten führende gepunktete Linie. Sie wehrte sich mit Tee und Orangen, mit Melba-Toast, bestrichen mit ungesalzener Butter. Im Radio wurde Eisregen vorhergesagt, eine winterliche Wetterkonstellation, die die Schulbusse lahmlegen konnte. In der Frühstücksnische war es zugig, und Emily zog sich ins Wohnzimmer zurück und las mit einer Decke über dem Schoß Middlemarch, aus der Stereoanlage Gabrielis ruhige Trompetenmusik, deren wechselnde Polyphonie sie einschläferte.
    Sie wachte

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