Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
Kay zu besuchen - und jetzt war es zu spät.
    Arlene kannte Kay von früher. In den siebziger Jahren hatten sie demselben Skiclub angehört und waren nach Banff und Vail, einmal sogar nach Österreich gereist. Emily wünschte sich, Kays Tod würde Arlene nähergehen.
    «Ich meine, dass es nicht unerwartet kommt.»
    «Für mich schon», sagte Emily.
    «Wie lange hat sie schon da gelebt?»
    «Darum geht es nicht.»
    «Ich verstehe, was du sagen willst», erwiderte Arlene, aber das stimmte offenbar nicht.
    Weder Margaret noch Kenneth waren überrascht. Es tat beiden leid, und sie baten Emily, Jamie und Terry ihr Beileid auszudrücken. Kenneth wusste noch, dass Kay sich an Halloween mal als Pinocchio verkleidet hatte. Margaret rief sich ins Gedächtnis, wie sie einmal bei den Millers übernachtet hatte und alle lange aufgeblieben waren, um sich Chiller Theater anzusehen, und wie Kay am nächsten Morgen Pfannkuchen mit Schokoladensplittern gemacht hatte. Noch mehr als Louise war sie die Spaßmom in ihrer Clique gewesen, hatte die Kinder zu Wasserschlachten angestiftet und Minigolf-Geburtstagspartys veranstaltet, ihr Garten der Spielplatz für die ganze Nachbarschaft. Früher mochte Emily auf die unbefangene Zuneigung der Kinder zu Kay einmal eifersüchtig gewesen sein, doch jetzt war sie froh darüber, als seien diese Erinnerungen ein Geschenk, das sie ihr machen könnte.
    Der Gedenkgottesdienst fand im Eccles Funeral Home statt, am anderen Flussufer in Aspinwall, demselben Bestattungsunternehmen, dem Kay Dicks Beerdigung anvertraut hatte. Der Gottesdienst war schön, wenn auch spärlich besucht - ein weiteres Risiko, wenn man seine Freunde überlebte. Statt das Gästebuch mit ihrer zittrigen Handschrift zu verunstalten, ließ Emily Arlene für sich mit unterschreiben. Die Familie hatte überall im Raum gerahmte Fotos von Kay in verschiedenem Alter aufgestellt, eine Idee, die Emily beeinflussend fand, denn die peinlichen Frisuren und Sattelschuhe katapultierten sie durch die Jahrzehnte in ihre eigene verlorene Kindheit zurück. Ihre Eltern, der Krieg, das Penn Royal - wieso waren diese Welt und alle, die darin lebten, inzwischen verschwunden? Kays Enkel, herausgeputzt in ihrer Kirchenkleidung, zusammengedrängt am Ende der ersten Reihe, langweilten sich. Emilys und Arlenes Lilien teilten sich das Podium mit zwei protzigen Blumenarrangements. Es gab keine Fenster, die warme Luft stand im Raum, und als Jamie eine lange, bittersüße Reminiszenz an die Liebe ihrer Mutter zu Hochzeiten vorlas, dachte Emily, dass sie schon zu viele Beerdigungen erlebt hatte und deshalb kritisch war.
    Sie war hier, weil sie Kay geliebt hatte, weil ihr Leben und ihre Familien schon so viele Jahre miteinander verknüpft waren, doch während sie da saß und darauf wartete, dass Jamie zum Ende kam, und ihr der unleugbare Grund für die Zusammenkunft so richtig klarwurde, erkannte Emily, dass sie ebenso um die verstrichenen glücklicheren Zeiten trauerte wie um Kay. War das bloß egoistisch, oder war in diesem Augenblick jeder Verlust persönlich? Obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte, kam ihr das Leben unfairerweise armselig und kurz vor, als sie aus diesem kahlen, hässlichen Raum darauf zurückblickte. Hatte sich Kay am Ende auch betrogen gefühlt?
    Nach dem Gottesdienst lud die Familie alle zu einem zwanglosen Empfang im Atria ein, einem überteuerten Fischrestaurant weiter flussaufwärts. Emily hatte eigentlich keine Lust, daran teilzunehmen, fühlte sich aber verpflichtet und blickte Arlene an, als könnte die sie retten.
    Nein, sie würden tun, was sich gehörte.
    Sie blieben nur so lange, bis sie ein Glas Wein getrunken und kurz mit Jamie und Terry gesprochen hatten. Aus Gewohnheit nannten die beiden sie Mrs. M., ein Name, den sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Offensichtlich hatten sie keine Ahnung, wer Arlene war. Jamie, die schon immer klug und selbstsicher war, hatte einen Kieferorthopäden geheiratet und wohnte mit ihren fünf Kindern in einem Vorort von Denver. Terry, der als Junge in Margaret verschossen gewesen war und langsam kahl wurde, war zweimal geschieden und arbeitete bei einem Kunststoffunternehmen in McKees Rocks. Emily verglich sie unwillkürlich mit ihren eigenen Kindern, als würden sie und Kay immer noch miteinander konkurrieren.
    «Leider müssen wir uns verabschieden, es ist höchste Zeit für uns», sagte Emily, beugte sich vor und küsste Jamies Wange. «Es war schön, euch zu sehen. Solltet ihr je in der

Weitere Kostenlose Bücher