Emily, allein
auf, als die Standuhr halb elf schlug. Schneeregen tickte an die Fenster. Rufus saß mit starrem Blick da und wollte rausgelassen werden.
«Das kann nicht dein Ernst sein», sagte sie und dann, an der Hintertür: «Schnell-schnell.»
Während sie betrachtete, wie er über die Schneekruste tappte, dachte sie, wenn sie bloß noch ein paar Wochen durchhielte, würde es ihr wieder gutgehen. Die Sonne würde sie neu beleben, dieses Gefühl der Nutzlosigkeit wegbrennen. Dann würde sie die Fenster aufstoßen, mit Rufus um den See spazieren, die Chaiselongue abwischen und sich im Garten sonnen.
Das Telefon schreckte sie aus ihrer Träumerei. Als sie ranging, war sie geradezu erleichtert. Hoffentlich war es Kenneth, aber sie hatten erst am Sonntag miteinander gesprochen. Wahrscheinlich war es Arlene oder Betty, die wissen wollte, ob sie am Mittwoch irgendetwas mitbringen solle.
«Hallo?», sagte Emily, doch die Frau am anderen Ende redete schon.
«… und vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen. Die Wahlhelfer John McCains möchten Sie daran erinnern, dass die Vorwahl für die Präsidentschaft am Dienstag, dem 22. April, stattfindet…»
«So gewinnen Sie meine Stimme nicht», sagte Emily, als könnte jemand, der mithörte, ihr Missfallen registrieren.
Draußen bellte Rufus. Als Emily auflegte, um sich um ihn zu kümmern, klingelte es an der Tür.
«Was ist denn jetzt schon wieder?» sagte sie, weil es plötzlich wie in einem Tollhaus zuging.
Es war Marcia mit ihrer Penguins-Kappe, in Daunenjacke und Jogginghose. Statt der üblichen Turnschuhe trug sie Schneestiefel, die Klettbänder lose herumschlackernd. Emily war sich ziemlich sicher, dass Marcia nicht mehr arbeitete. Ihr kleiner Hybridwagen rührte sich tagelang nicht vom Fleck.
«Ich hab’s gerade erfahren», sagte Marcia. «Tut mir wirklich leid.»
Emily hatte keine Ahnung, wovon sie redete, nickte jedoch und machte ein unbeteiligtes Gesicht. «Danke, aber was genau haben Sie denn erfahren?»
«Das mit Mrs. Miller.»
«Ja?»
«Tut mir echt leid. Ich weiß, dass Sie sich nahestanden.»
Kay gestorben, und Emily hatte sie nicht besucht. Konnte das wirklich wahr sein?
Ja. Jim hatte auf das Haus aufgepasst, während es zum Verkauf stand. Die Familie hatte angerufen, um ihm Bescheid zu sagen.
Hinterm Haus lärmte Rufus weiter, aber nun klang er weit weg. Marcia stand auf der Treppe, als wartete sie darauf, hereingebeten zu werden.
«Danke», sagte Emily.
«Wenn wir irgendwas tun können.»
«Danke, das ist sehr nett.»
Das war alles, was Marcia ihr sagen wollte. Als sie gegangen war, dachte Emily, dass es unfair war, sie mit der Nachricht alleinzulassen. Während sie nach hinten ging, wo Rufus immer noch wie wild bellte, dachte sie bei sich, dass auch Louise und ihr Vater im Frühling gestorben waren. Die dunkelsten Tage zu überstehen, nur um dann zu sterben - vermutlich lag darin eine Lehre, die in ihrer Lage einer genaueren Prüfung nicht standhielt.
Sie gab Rufus seinen Hundekuchen, ließ ihn fallen, ohne hinzuschauen. Er zerbrach, als er auf dem Boden aufkam, und ein Stück glitt unter den Rand der Geschirrspülmaschine, sodass sie es für ihn mit dem Zeh wieder hervorholen musste.
«Du stinkst», sagte sie, denn er war nass.
Kay. Die kleine, vogelartige Kay mit ihrem Pony, ihren Armreifen und ihren Krebs auslösenden rosa Tab-Dosen.
Sie hatte als Erste aus ihrer Clique im Edgewood Club einen Bikini getragen. Mit ihrem knabenhaften Körper war das kein Problem gewesen, anders als bei Emily, die eher das Gefühl hatte, sich zur Schau zu stellen. Kay war ein Tennisnarr und arbeitete den ganzen Sommer an ihrer Sonnenbräune, hielt ihren mahagonifarbenen Arm immer neben den von Emily. Damals waren sie jeden Tag im Club. Sie wechselten sich mit dem Fahren ab, packten die Kinder in ihre riesigen alten Kombis, nur in Badeanzug und T-Shirt, in ihrem Haar Chlorgeruch.
Wann wollten ihr Jamie und Terry Bescheid sagen, oder dachten sie, in der Grafton Street sei niemand mehr übrig?
Damit lägen sie gar nicht so falsch. Von der alten Truppe war sie die Letzte, und wieder einmal fragte sie sich, wo die Jahre geblieben waren und warum sie immer noch lebte.
Den Rest des Tages wartete sie auf ihren Anruf. Als Jamie sich am Spätnachmittag endlich meldete, war Emily dankbar, dass man sie nicht vergessen hatte.
«Deine Mutter war immer so lebhaft», sagte Emily, und obwohl das stimmte, kam sie sich unaufrichtig vor, weil sie es so lange aufgeschoben hatte,
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