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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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erfahren hätte», sagte Emily. «Ich weiß gar nicht, warum ich dich überhaupt noch anrufe. Du erzählst mir ja doch nichts.»
    «Mom.» Er schüttelte den Kopf, als sei sie ungerecht. «Uns erschien es nicht hilfreich, die Sache überall herumzuposaunen.»
    «Ist schon in Ordnung. Ich werde meine Meinung für mich behalten, da sie offenbar nicht erwünscht ist.»
    Sie ließ das so stehen.
    «Das war erst vor ein paar Wochen», sagte Kenneth. «Wir haben gehofft, er würde durchhalten, aber er war schon auf akademischer Bewährung und sah keine Möglichkeit, sich überall auf eine 2 zu verbessern. Wir hoffen, er kann im Sommer ein paar Kurse belegen, damit er sich richtig darauf konzentrieren und seine Durchschnittsnote verbessern kann.»
    «Will er das denn?»
    «Darüber sprechen wir gerade. Er ist ziemlich entmutigt.»
    «Natürlich», sagte Emily, die das Ganze nicht für einmaliges Pech, sondern für eine Ausweitung seiner üblichen Probleme hielt. «Ella als ältere Schwester zu haben macht es bestimmt nicht einfacher.»
    «Damit hast du wirklich einen wunden Punkt getroffen.»
    «Soll ich mich entschuldigen, oder würde das alles bloß noch schlimmer machen?»
    «Das ist allein deine Entscheidung.»
    «Ich sollte noch mal mit ihm reden.»
    Kenneth stimmte zu, doch er überließ es ihr, sich zu überlegen, was sie sagen sollte. Das ganze Geschwisterproblem war ein Minenfeld. Sie konnte Sam nicht verdenken, dass er auf Ella eifersüchtig war. Emily konnte aufrichtig sagen, sie habe von seiner Situation nichts gewusst und werde sich, ob es ihm gefalle oder nicht, stets Sorgen um ihn machen. Das war weder eine Entschuldigung noch eine Rüge, was sie passend fand, da sie beide im Unrecht gewesen waren, doch als sie ihn zu einem raschen Gespräch aus dem Fernsehzimmer rief und im Flur ihre kurze Ansprache hielt, hörte er sie sich mit derselben Gleichgültigkeit an, die er schon am Tisch gezeigt hatte, und obwohl sie sich umarmten, als hätten sie sich versöhnt, fühlte sich Emily ihm nicht näher.
    Im Bett dachte sie weiter darüber nach. Sie nahm das Ganze nicht persönlich. Am allerwenigsten ging es um verletzte Gefühle. Sie machte sich Sorgen wegen seines Abgangs vom College und wegen seiner Berufsaussichten, weil sie an seine Zukunft dachte. Im Gegensatz zu Ella oder Sarah hatte er keine besonderen Fähigkeiten, kein einzigartiges Talent oder Wesensmerkmal außer dem Missmut seiner Mutter und dem Hang, in Schwierigkeiten zu geraten. Sie sah schon vor sich, wie er bei diesem Kleiderladen arbeitete, unendlich lange zu Hause wohnte und genau wie Margaret nicht zu Ende studierte. Sie befürchtete, dass Kenneth von ihm enttäuscht war, und das war traurig. Doch er war noch jung, vielleicht würde er sich ändern. Aber vielleicht auch nicht. Das wäre schrecklich. Obwohl sie sich fast schon melodramatisch vorkam, hielt sie das Problem im Großen und Ganzen für unstrittig und weitreichend. Wenn er so weitermachte, was sollte dann aus ihm werden?
     
    Vollmacht
     
    Emily hatte Kenneth angewiesen, seine Kopie des Testaments mitzubringen, damit sie es zusammen durchgehen konnten. Sie mussten erst um halb sechs am Flughafen sein, und nachdem sie aus der Kirche kamen, sich umgezogen und mit dem Schinken vom Vorabend Sandwiches zubereitet hatten, zog sie sich mit ihm in Henrys Arbeitszimmer zurück und schloss hinter ihnen die Tür. «Nimm Platz.»
    Er setzte sich wortlos und stellte den Rucksack zwischen seine Füße.
    Auch wenn sein Schweigen respektvoll sein sollte, wünschte sie, er wäre weniger ernst. Warum behandelte man den Tod wie ein peinliches Familiengeheimnis? Sie war auf eine Wiederholung ihres Gesprächs mit Margaret gefasst, wollte das Ganze aber auch ein für alle Mal hinter sich bringen, dankbar, dass sie es zum letzten Mal erklären musste.
    Sie zog die Schublade auf und holte den dicken braunen Umschlag mit beiden Händen heraus. Seit Weihnachten war sie das Testament und die beigefügten Papiere immer wieder durchgegangen, da Kenneth bei der Testamentsvollstreckung höchstwahrscheinlich die meiste Arbeit erwartete, und an den Seitenrändern wimmelte es von rosa Klebezetteln.
    «Das ist aber witzig», sagte er.
    «Was?»
    Er griff in den Rucksack, zog seine Kopie hervor und legte sie neben ihre auf den Schreibtisch. Sie war genauso dick mit gelben Klebezetteln verziert. «Das ist wirklich witzig.»
    Noch witziger war, dass ihre Fragen perfekt aufeinander abgestimmt waren.
    Während sie sprach,

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