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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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machte er sich auf einem Block jede Menge Notizen, blätterte oft um und unterbrach sie immer wieder, um sich etwas erläutern zu lassen. Im Gegensatz zu Margaret war er stets ein guter Schüler gewesen, Finalist beim Buchstabierwettbewerb, äußerst gewissenhaft bei den Hausaufgaben, begeistert von jeder Möglichkeit, Extrapunkte zu erwerben. Sie führte seinen Wunsch, es allen recht zu machen, auf Henry zurück, doch sie selbst hatte lauter glatte Einsen gehabt, und ihre Zeugnisse waren gelobt und aufbewahrt worden. Wenn Margaret mit ihrer Reizbarkeit geschlagen war, dann hatte Kenneth ihren Eifer geerbt.
    Während sie jeden Punkt ausführlich durchgingen, war sie erleichtert und dankbar, dass er sich die Zeit genommen hatte, sie zu verstehen. Warum hatte sie sich Sorgen gemacht? Sie hätte doch wissen müssen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
     
    392
     
    Eine Woche nach der Abreise der drei war Emily wie jedes Mal deprimiert und zerstreut, und als sie an einem klaren, kühlen Morgen mit Rufus seinen Spaziergang machte, entdeckte sie auf der Schieferplatte direkt vor ihren Stufen zwei aufgesprühte schwarze Pfeile, die bergab zeigten und zwischen denen die Zahl 392 stand, wie ein Fluch oder eine Warnung.
    Sie ließ den Blick über die leeren Rasenflächen, Einfahrten und Veranden schweifen, als würde derjenige, der dafür verantwortlich war, sie beobachten. Rufus sah sie an und wunderte sich, warum sie stehengeblieben waren.
    Sie hätte es für ein Bandengraffito gehalten, denn das war in dem Sträßchen hinter der Sheridan Avenue mal ein Problem gewesen, doch dazu war es zu klein und kunstlos. Es war so schlampig aufgesprüht, dass es nach etwas Amtlichem aussah, wie die Ankündigung öffentlicher Bauarbeiten - einer neuen Abwasserleitung oder eines Glasfaserkabels -, die im Sommer ihre Ruhe stören könnten. Die geheimnisvollen Ziffern verschandelten nicht nur ihren Weg, sondern stellten auch ein Chaos in Aussicht, das sie nicht verhindern konnte, und als sie die Grafton Street entlangging, runzelte sie über ihr Pech die Stirn.
    Während sie weiterspazierten und Rufus immer wieder stehenblieb, um an den knospenden Hecken ein geeignetes Fleckchen zu finden, suchte sie in der Hoffnung, den Verlauf der bevorstehenden Störung aufzuspüren, auf dem Gehsteig und der Straße nach ähnlichen Hieroglyphen, fand aber nichts. Statt der üblichen Route zu folgen, bog sie an der Sheridan Avenue nicht links ab, sondern ging zur Heberton Street hinauf, überquerte dort die Straße und kehrte auf der anderen Seite, am Haus der Millers vorbei, zurück, den Blick prüfend auf das Pflaster gerichtet, das, bis auf ein paar kleinere Risse, in gutem Zustand zu sein schien.
    Im letzten Herbst hatte das Gasunternehmen am Fuß des Hügels an der Ecke Farragut Street eine Grube ausgehoben, direkt an Henrys früherer Bushaltestelle, was an den helleren Asphaltflicken noch immer zu erkennen war. Bei ihrem Einzug hatte der Belag der Farragut Street aus rotem Backstein bestanden, und das war noch bis weit in die Achtziger so geblieben - holprig und vom Frost aufgeworfen, die Ziegelsteine angeschlagen oder gesprungen, bei feuchtem Wetter rutschig, aber auch schön, besonders im Herbst, wenn die überhängenden Äste einen Tunnel bildeten -, bevor die Stadt den Straßenbelag in glattem, eintönigem Grau erneuerte. Emily fragte sich, welcher blutleere Ausschuss wohl diese Entscheidung getroffen hatte. Bestimmt niemand, der schon mal hier gewohnt hatte.
    Sie gingen den ganzen Weg bis zum Stoppschild an der Highland Avenue hinunter und kamen auf ihrer Seite, an Louises Haus vorbei, wieder herauf. Rufus trödelte mit gesenktem Kopf hinterher. Er hechelte wie nach einem meilenweiten Lauf, und Emily blieb stehen, um ihn verschnaufen zu lassen. Auch an den beiden Kanalschächten oder dem Gully vorm Haus der Conroys war nichts zu sehen. Das Fehlen weiterer Markierungen verblüffte sie, als könnte sie das Rätsel lösen, sobald sie eine Systematik entdeckte.
    Noch während sie darüber nachdachte, kam Marcia Cole im Trainingsanzug, das Haar unter eine Penguins-Kappe gesteckt, aus dem Haus. Sie hatte angefangen zu laufen, weil sie abnehmen wollte, und obwohl das bisher noch zu keinem sichtbaren Ergebnis geführt hatte, sah Emily sie jeden Morgen mit rotem Kopf und verschwitzt vorbeitrotten. Marcia hob ein Bein, stützte die Ferse des Turnschuhs aufs Verandageländer und dehnte sich, als würde sie für die Olympischen Spiele trainieren.

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