Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
schrieb und sein Ziel so ernsthaft zu verfolgen schien. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Vater sein sterbendes Kind so tyrannisch behandeln konnte, dass er es zu diesem scheinbaren Liebeseifer zwang — erst später erfuhr ich, er habe es wirklich getan —. Und seine Bemühungen verdoppelten sich in dem Maße, als der Tod seine habgierigen und herzlosen Pläne zu vereiteln drohte.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
DER SOMMER hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten, als Edgar den Bitten der Kinder widerstrebend nachgab und Catherine und ich unseren ersten Ritt unternahmen, um ihren Vetter zu treffen. Es war ein schwüler, trüber Tag ohne Sonnenschein, doch war der Himmel weniger wolkig als dunstig und ließ keinen Regen befürchten. Unser Treffpunkt war beim Wegweiser an der Straßenkreuzung; als wir jedoch dort anlangten, berichtete uns ein kleiner, als Bote geschickter Hirtenjunge, Master Linton sei auf der anderen Seite des Hügels und wäre uns dankbar, wenn wir ihm etwas weiter entgegenkämen.
»Dann hat Master Linton die erste Bedingung seines Onkels vergessen«, bemerkte ich. »Er hat uns befohlen, auf dem Boden von Thrushcross Grange zu bleiben, und hier würden wir ihn verlassen.«
»Nun«, antwortete meine Begleiterin, »sobald wir ihn treffen, wenden wir die Pferde und machen unseren Spazierritt in der Richtung nach Hause.«
Aber als wir bei ihm anlangten — und das war kaum eine Viertelmeile von seiner eigenen Tür entfernt —, sahen wir, dass er kein Pferd hatte, und waren gezwungen, abzusteigen und unsere Gäule grasen zu lassen. Er lag im Heidekraut und erwartete uns. Doch erhob er sich erst, als wir dicht bei ihm waren. Und dann ging er so schwankend und sah so blass aus, dass ich sofort ausrief: »Ei, Master Heathcliff, heute wird Ihnen aber in Ihrer Verfassung ein Spaziergang kein Vergnügen machen. Wie krank Sie aussehen!«
Catherine musterte ihn mit Besorgnis und Verwunderung. Der Freudenschrei erstarb auf ihren Lippen und verwandelte sich in einen Schreckensruf, und statt der Beglückwünschung zu ihrem so lange hinausgeschobenen Wiedersehen fand sie nur die ängstliche Frage, ob es ihm schlechter ginge als sonst.
»Nein — besser — besser«, keuchte er zitternd und hielt ihre Hand fest, als brauche er eine Stütze, während er seine großen blauen Augen schüchtern zu ihr aufhob; sie lagen tief in den Höhlen, und dadurch schienen sie, die ehemals so matt gewesen waren, in verstörter Wildheit aufzuflackern.
»Aber es ist dir schlechtgegangen«, beharrte seine Kusine, »schlechter als damals, als ich dich das letzte Mal sah; du bist magerer und…«
»Ich bin müde«, fiel er ihr hastig ins Wort. »Es ist zu heiss zum Spazierengehen, wir wollen hier rasten. Und morgens fühle ich mich oft schwach; Papa sagt, ich wachse zu schnell.«
Nur halb zufriedengestellt, setzte sich Cathy hin, und er ließ sich neben ihr nieder und lehnte sich an sie an.
»Dies ist ungefähr so, wie du dir das Paradies vorstellst«, sagte sie in dem Bemühen, ihn aufzuheitern. »Erinnerst du dich, dass wir ausgemacht hatten, wir wollten zwei Tage an dem Ort und auf die Art verbringen, die uns am angenehmsten schien? Dies ist fast dein Paradies, nur dass Wolken am Himmel sind; aber die sind so weich und lind, dass es schöner ist, als wenn die Sonne schiene. Wenn du kannst, wollen wir nächste Woche nach dem Park von Thrushcross Grange reiten und auch mein Paradies ausprobieren.«
Linton schien sich dessen, wovon sie sprach, nicht zu entsinnen, und es bereitete ihm augenscheinlich große Schwierigkeit, überhaupt einer Unterhaltung zu folgen. Sein mangelndes Interesse an allem, wovon sie zu sprechen begann, und sein völliges Unvermögen, etwas zu ihrer Unterhaltung beizutragen, waren so auffallend, dass sie ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte. Eine unerklärliche Veränderung war mit seinem Wesen und seiner Art, sich zu geben, vor sich gegangen. Seine Übellaunigkeit, die früher durch Zärtlichkeit weggeschmeichelt werden konnte, war einer stumpfen Teilnahmslosigkeit gewichen. Das war nicht mehr die verdriessliche Laune eines Kindes, das trotzt und schmollt, um getröstet zu werden, das war mehr das selbstisch mürrische Wesen eines ausgesprochen kranken Menschen, der alle Tröstungen zurückweist und bereit ist, die gutgemeinte Fröhlichkeit anderer als Beleidigung zu betrachten. Catherine bemerkte ebensogut wie ich, dass ihm unsere Gesellschaft eher eine Strafe als ein
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