Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
Das trieb sie vollends zur Verzweiflung. Linton, der bald nach meinem Weggang in das kleine Wohnzimmer geführt worden war, wurde von ihr durch Drohungen dahin gebracht, den Schlüssel zu holen, ehe sein Vater wieder heraufkam. Er gebrauchte die List, die Tür auf- und wieder zuzuschließen, ohne sie ins Schloss zu drücken, und als er zu Bett gehen sollte, bat er darum, bei Hareton schlafen zu dürfen, was ihm für diese eine Nacht gestattet wurde. Catherine stahl sich vor Anbruch des Tages hinaus. Sie wagte nicht, eine der Türen zu benutzen, weil sonst die Hunde angeschlagen hätten; sie ging durch die leeren Zimmer, untersuchte ihre Fenster und geriet glücklicherweise in das ihrer Mutter, durch dessen Fenster sie hinausklettern und an der dicht daranstehenden Föhre entlang auf den Erdboden gleiten konnte. Trotz dem zaghaft angewandten Kunstgriff hatte ihr Helfer für seinen Anteil an ihrer Flucht zu büssen.
Neunundzwanzigstes Kapitel
AM ABEND nach der Trauerfeier saßen meine junge Herrin und ich in der Bibliothek, bald in traurige, teilweise verzweiflungsvolle Gedanken über unseren Verlust versunken, bald mit Vermutungen über die düster aussehende Zukunft beschäftigt.
Wir waren gerade übereingekommen, das gnädigste Geschick, das Catherine erwarten konnte, wäre die Erlaubnis, in Thrushcross Grange zu bleiben, wenigstens solange Linton am Leben war, und dass er bei ihr wohnen und ich als Haushälterin bleiben dürfte. Diese Anordnung schien allerdings zu schön, als dass man darauf hoffen durfte; und doch hoffte ich und begann bei dem Gedanken aufzuleben, mein Heim, meine Arbeit und vor allem meine geliebte junge Herrin zu behalten, als ein Diener — einer der entlassenen, der noch nicht fortgegangen war — hastig hereinstürzte und sagte, der Teufel, Heathcliff, käme durch den Hof, ob er ihm die Tür vor der Nase verrammeln solle.
Selbst wenn wir so wahnsinnig gewesen wären, diesen Befehl zu erteilen, wäre keine Zeit dazu geblieben. Heathcliff hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf, ließ sich nicht anmelden, klopfte auch nicht an die Tür; er war der Herr und nahm das Herrenrecht für sich in Anspruch, ohne ein Wort zu sagen, einfach hereinzukommen. Die Stimme des Dieners, der uns die Nachricht gebracht hatte, lenkte ihn zur Bibliothek; er trat ein, schickte den Mann durch eine Handbewegung weg und schloss die Tür.
Es war dasselbe Zimmer, in das er vor achtzehn Jahren als Gast geführt worden war; derselbe Mond schien zum Fenster herein, und draussen lag dieselbe Herbstlandschaft. Wir hatten noch kein Licht angezündet, aber das ganze Zimmer war erhellt bis zu den Bildern an der Wand, dem prachtvollen Kopf Mrs. Lintons und dem feinen ihres Mannes. Heathcliff ging auf den Kamin zu. Die Zeit hatte auch an seinem Aussehen wenig verändert. Da stand derselbe Mann: sein dunkles Gesicht etwas bleicher und ruhiger, sein Körper etwa zehn bis zwanzig Pfund schwerer, aber sonst war da kein Unterschied. Catherine war bei seinem Erscheinen aufgesprungen und hatte eine Bewegung zur Flucht gemacht.
»Du bleibst!« sagte er und nahm sie beim Arm. »Weglaufen gibt es nicht mehr. Wohin wolltest du auch gehen? Ich komme, um dich nach Hause zu holen, und ich hoffe, dass du eine folgsame Tochter bist und meinen Sohn zu keinem weiteren Ungehorsam anstiftest. Ich wusste nicht, wie ich ihn strafen sollte, als ich seine Mittäterschaft bei der Sache entdeckte. Er ist so ein Hauch, dass schon ein harter Griff ihn auslöschen würde; aber du wirst an seinem Aussehen merken, dass er sein Teil abbekommen hat. Ich habe ihn vorgestern heruntergebracht und auf einen Stuhl gesetzt und habe ihn seitdem nicht wieder angerührt. Ich habe Hareton hinausgeschickt, und wir hatten das Zimmer für uns. Nach zwei Stunden habe ich Joseph gerufen und ihn wieder hinauftragen lassen, und seitdem lastet meine Gegenwart auf seinen Nerven wie ein Alpdruck. Ich glaube, er sieht mich oft, obwohl ich gar nicht in der Nähe bin. Hareton sagt, er wacht nachts alle Stunden auf und schreit und ruft dich um Hilfe an gegen mich, und ob du nun deinen kostbaren Gatten liebst oder nicht, mitkommen musst du; er ist jetzt deine Angelegenheit, ich trete dir all mein Interesse an ihm ab.«
»Warum wollen Sie Catherine nicht hierbleiben lassen«, bat ich, »und Master Linton zu ihr schicken? Da Sie beide hassen, werden Sie sie nicht entbehren; sie können doch nur eine tägliche Qual für Ihr verhärtetes Herz sein.«
»Ich suche einen
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