Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
in ebenso kümmerlichen Verhältnissen lebe.
»Ist er nicht reich genug, die Besitzung instand halten zu können?« fragte ich.
»Reich, Mr. Lockwood?« entgegnete sie. »Er hat wer weiss wieviel Geld, und jedes Jahr wird es mehr. Ja, ja, er ist reich genug, in einem viel schöneren Hause zu leben; aber er ist sehr genau — geizig! Und wenn er auch nach Thrushcross Grange hätte ziehen wollen — sobald er von einem guten Pächter gehört hätte, hätte er es nicht ertragen können, dass ihm ein paar Hundert entgangen waren. Es ist seltsam, dass Leute so habgierig sein können, wenn sie in der Welt allein stehen!«
»Er hatte anscheinend einen Sohn?«
»Ja, er hatte einen, aber der ist tot.«
»Und die junge Dame, Mrs. Heathcliff, ist seine Witwe?«
»Ja.«
»Woher stammt sie eigentlich?«
»Sie ist die Tochter meines verstorbenen Herrn, Catherine Linton war ihr Mädchenname. Ich habe sie großgezogen, das arme Ding. Ich hatte gehofft, Mr. Heathcliff werde sie zurückschicken, dann hätten wir wieder zusammen leben können.«
»Was, Catherine Linton?« rief ich erstaunt. Aber eine kurze Überlegung überzeugte mich, dass das nicht meine gespenstische Catherine war, und ich fuhr fort: »Dann war der Name meines Vorgängers Linton?«
»Ganz recht.«
»Und wer ist dieser Earnshaw, Hareton Earnshaw, der
bei Mr. Heathcliff wohnt? Sind die beiden verwandt?« »Nein, er ist der Neffe der verstorbenen Mrs. Linton.« »Also der Vetter der jungen Dame?«
»Ja, und ihr Mann war ebenfalls ihr Vetter, der eine mütterlicherseits, der andere väterlicherseits. Heathcliff hat Mr. Lintons Schwester geheiratet.«
»Ich sah, dass am Haus in Wuthering Heights über der Eingangstür ›Earnshaw‹ eingemeisselt steht. Ist es eine alte Familie?«
»Sehr alt, Mr. Lockwood, und Hareton ist der Letzte von ihnen, so wie unsere Miss Cathy die Letzte von uns — ich meine, von den Lintons — ist. Waren Sie in Wuthering Heights? Verzeihen Sie, dass ich frage, aber ich wüsste gern, wie es ihr geht.«
»Mrs. Heathcliff? Sie sah sehr gut und sehr schön aus, aber ich fürchte, sie ist nicht sehr glücklich.«
»Du liebe Güte, das ist kein Wunder! Und wie gefiel Ihnen der Herr?«
»Ein recht grober Patron, Mrs. Dean. Stimmt das nicht?«
»Rau wie ein Reibeisen und hart wie Granit! Je weniger Sie sich mit ihm einlassen, desto besser.«
»Er muss allerhand erlebt haben, was ihn zu einem solchen Grobian gemacht hat. Kennen Sie seine Lebensgeschichte?«
»Er ist ein Kuckucksei, Mr. Lockwood; ich kenne sein ganzes Leben, weiss nur nicht, wo er geboren ist, wer seine Eltern waren und wie er zuerst zu seinem Gelde gekommen ist. Und Hareton ist ausgestoßen worden, wie ein nackter kleiner Vogel! Der unglückliche Junge ist in unserem ganzen Kirchspiel der einzige, der keine Ahnung davon hat, wie sehr er benachteiligt worden ist.«
»Wissen Sie, Mrs. Dean, Sie würden ein gutes Werk tun, wenn Sie mir etwas über meine Nachbarn erzählten. Ich fühle, ich könnte jetzt noch nicht schlafen, wenn ich zu Bett ginge, also seien Sie so gut und plaudern Sie ein Stündchen mit mir.«
»Recht gern, Mr. Lockwood! Ich will nur mein Nähzeug holen, dann bleibe ich so lange, wie Sie wollen. Aber Sie haben sich erkältet; ich habe gesehen, dass Sie frösteln. Sie müssen jetzt eine Haferschleimsuppe essen, um die Krankheit zu vertreiben.«
Die treffliche Frau lief geschäftig hinaus, und ich rückte näher ans Feuer; mein Kopf glühte, und mein Körper war eiskalt; Nerven und Gehirn waren in hohem Maße erregt. Ich fühlte mich nicht unbehaglich, aber ich fürchtete (und befürchte es noch), dass die heutigen und gestrigen Ereignisse ernste Folgen haben werden. Mrs. Dean kam bald wieder und brachte eine dampfende Schüssel und einen Nähkorb mit. Sie stellte die Suppe auf den Kaminsims, und augenscheinlich erfreut, mich so umgänglich zu finden, rückte sie ihren Stuhl näher.
Bevor ich hierherkam — begann sie, ohne eine weitere Aufforderung zum Erzählen abzuwarten —, war ich meistens in Wuthering Heights; denn meine Mutter war die Amme von Mr. Hindley Earnshaw, das war Haretons Vater, und ich war gewöhnt, mit den Kindern zu spielen. Ich besorgte auch Botengänge, half beim Heuen und lungerte auf dem Gut herum, stets bereit, kleine Aufträge auszuführen. Eines schönen Sommermorgens — ich entsinne mich, es war zu Beginn der Ernte — kam Mr. Earnshaw, der alte Herr, zu einer Reise gerüstet, die Treppe herunter. Nachdem er Joseph
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