Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
Gefühle, die sie für ihn hegte, wandte sie sich um und flüsterte ihrer Peinigerin eine dringende Bitte zu, sie loszulassen.
»Auf keinen Fall!« rief Mrs. Linton. »Ich will nicht noch einmal Neidhammel genannt werden. Du sollst bleiben! Nun, Heathcliff, warum zeigst du gar keine Freude über meine angenehmen Nachrichten? Isabella schwört, dass die Liebe, die Edgar für mich empfindet, nichts ist gegen ihr Gefühl für dich. Sie hat bestimmt etwas dieser Art gesagt, nicht wahr, Ellen? Und sie hat seit unserem vorgestrigen Spaziergang gefastet aus Kummer und Wut darüber, dass ich ihr angeblich deine Gesellschaft nicht gegönnt habe. Sie hat sich eingebildet, wir wollten sie los sein.«
»Ich glaube, du tust ihr Unrecht«, sagte Heathcliff und drehte seinen Stuhl so, dass er ihnen ins Gesicht sehen konnte. »Auf alle Fälle wünscht sie augenblicklich meine Gesellschaft nicht.«
Und er starrte den Gegenstand unseres Gespräches unverwandt an, so wie man ein fremdländisches, abstoßendes Tier beschaut, einen Tausendfüssler aus Indien zum Beispiel, den man trotz dem Abscheu, den er erregt, aus Neugierde betrachten muss. Das arme Ding konnte das nicht ertragen; sie wurde abwechselnd weiss und rot, während Tränen aus ihren Augen perlten, und versuchte mit der schwachen Kraft ihrer kleinen Hände den festen Griff Catherines zu lockern. Als sie merkte, dass sich immer ein anderer Finger um ihren Arm presste, wenn sie eben den einen gelöst hatte, und dass sie die ganze Hand nicht entfernen konnte, machte sie Gebrauch von ihren scharfen Fingernägeln, und sogleich war die Hand ihrer Peinigerin mit roten Kratzern bedeckt.
»So eine Katze!« rief Mrs. Linton, ließ sie frei und schüttelte ihre Hand vor Schmerz. »Scher dich schleunigst weg und verbirg dein Gesicht, du böse Sieben! Wie töricht von dir, ihm solche Krallen zu enthüllen! Ahnst du nicht, welche Schlüsse er daraus ziehen wird? Sieh her, Heathcliff, mit solchen Werkzeugen richtet man Verheerungen an. Hüte deine Augen!«
»Ich würde sie ihr von den Fingern reissen, wenn sie mich jemals damit bedrohte«, antwortete er roh, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. »Aber was hast du damit bezweckt, das Geschöpf in dieser Weise zu quälen, Cathy? Du hast doch nicht die Wahrheit gesprochen, nicht wahr?«
»Gewiss habe ich das«, entgegnete sie. »Seit mehreren Wochen schmachtet sie nach dir; heute früh hat sie von dir geschwärmt und hat mich heftig beschimpft, weil ich deine Mängel in helles Licht rückte, um ihre Anbetung zu dämpfen. Aber nun kümmere dich weiter nicht darum; ich wollte sie für ihre Unverschämtheit bestrafen, das ist alles. Ich habe sie viel zu gern, mein lieber Heathcliff, als zuzulassen, dass du sie ganz und gar nimmst und verschlingst.«
»Und ich liebe sie viel zuwenig, als dass ich auch nur den Versuch machte«, sagte er; »oder ich täte es wie ein Dämon. Du würdest seltsame Dinge hören, wenn ich mit diesem zimperlichen Puppengesicht allein leben müsste; das Harmloseste wäre noch, ihr die Farben des Regenbogens auf die weisse Haut zu malen und ihre blauen Augen alle paar Tage in schwarze zu verwandeln; sie ähneln denen Lintons abscheulich.«
»Erfreulich!« bemerkte Catherine. »Es sind Taubenaugen, Engelsaugen!«
»Sie wird ihren Bruder beerben, nicht wahr?« fragte er nach kurzem Schweigen.
»Es würde mir leid tun, wenn das so wäre«, entgegnete seine Gefährtin. »Hoffentlich wird ihr ein halbes Dutzend Neffen einmal den Titel streitig machen. Aber hänge deine Gedanken nicht länger daran; du hast es gar zu eilig, nach den Gütern deines Nachbarn zu trachten; bedenke, dieses Nachbarn Güter sind die meinen.«
»Wenn sie mir gehörten, würden sie es nicht weniger sein«, sagte Heathcliff; »aber wenn Isabella Linton auch einfältig sein mag, verrückt ist sie schwerlich; und nun wollen wir den Gedanken daran aufgeben, wie du es wünschst.«
Sie gaben ihn auf, wenigstens in der Unterhaltung, und Catherine vergaß ihn wahrscheinlich bald. Heathcliff aber rief ihn sich im Lauf des Abends oft zurück. Ich sah ihn vor sich hin lächeln, eher grinsen, und in unheilvolles Brüten fallen, sobald Mrs. Linton einmal nicht im Zimmer war.
Ich beschloss, seine Schritte zu beobachten. Mit dem Herzen war ich mehr auf des Herrn als auf Catherines Seite, und das wohl mit Recht, denn er war gütig, vertrauenswürdig und ehrenhaft, während sie, wenn man sie auch nicht das Gegenteil davon nennen konnte, sich so
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