Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
Heathcliff war, wohl wegen des plötzlichen Sturmes, früher als gewöhnlich von seiner Wache zurückgekommen. Der hintere Eingang war verriegelt, und wir hörten ihn herumgehen und durch den anderen hereinkommen. Ich erhob mich; unwillkürlich entschlüpfte meinen Lippen ein Laut tiefsten Widerwillens, und das veranlasste Earnshaw, der nach der Tür gestarrt hatte, sich umzuwenden und mich anzusehen.
›Ich werde ihn fünf Minuten lang aussperren‹, rief er, ›Sie haben doch nichts dagegen?‹
›Nein, meinthalben können Sie ihn die ganze Nacht aussperren‹, antwortete ich, ›tun Sie es nur. Stecken Sie den Schlüssel ins Schloss, und schieben Sie den Riegel vor.‹
Earnshaw war damit fertig, ehe sein Gast die Vordertür erreicht hatte. Dann kam er, stellte seinen Stuhl auf die andere Seite meines Tisches, lehnte sich darüber und suchte in meinen Augen einen Widerschein des glühenden Hasses, der in seinen brannte. Dass er wie ein Mörder fühlte, prägte sich in seinen Gesichtszügen aus, und wenn er auch in mir nicht das fand, was er suchte, so ermutigte ihn mein Aussehen doch zum Sprechen.
›Sie und ich‹, sagte er, ›wir haben beide eine große Rechnung mit dem Mann dort draussen ins reine zu bringen. Wenn wir nicht beide Feiglinge wären, würden wir uns zusammentun, um sie zu begleichen. Sind Sie so sanftmütig wie Ihr Bruder? Wollen Sie bis zum Letzten alles erdulden und nicht ein einziges Mal versuchen, es ihm heimzuzahlen?‹
›Ich bin des Duldens müde‹, erwiderte ich, ›und ich werde jede Vergeltung begrüssen, die nicht auf mich selbst zurückfällt. Aber Verrat und Gewalt sind an beiden Enden zugespitzte Speere; sie verwunden die, die ihre Zuflucht zu ihnen nehmen, mehr als ihre Feinde.‹
›Verrat und Gewalt sind gerechte Vergeltung für Verrat und Gewalt!‹ schrie Hindley. ›Mrs. Heathcliff, ich verlange nichts von Ihnen, als dass Sie sich still verhalten und schweigen. Sagen Sie mir, können Sie das? Ich bin überzeugt, Sie würden sich ebenso freuen wie ich, wenn Sie das Ende dieses Teufels mitansehen könnten. Er wird Ihr Tod sein, wenn Sie diese Chance jetzt nicht ausnützen, und er wird mein Untergang sein. Gott verdamme den höllischen Schurken! Da klopft er an die Tür, als ob er hier bereits der Herr wäre. Versprechen Sie mir, den Mund zu halten, und bevor die Uhr dort schlägt — es fehlen noch drei Minuten an eins —, sind Sie von ihm befreit.‹
Er nahm die Waffen, die ich dir in meinem Brief beschrieben habe, aus der Tasche und wollte die Kerze auslöschen. Ich riss aber das Licht weg und packte seinen Arm.
›Ich werde meinen Mund nicht halten!‹ sagte ich. ›Sie sollen ihn nicht anrühren. Lassen Sie die Tür verschlossen und verhalten Sie sich ruhig!‹
›Nein, ich habe meinen Entschluss gefasst, und so wahr mir Gott helfe, ich werde ihn ausführen!‹ schrie der verzweifelte Mensch. ›Ich werde Ihnen, auch gegen Ihren Willen, eine Wohltat erweisen und Hareton sein Recht verschaffen. Und Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, wie Sie mich schützen. Catherine ist tot. Keine Menschenseele würde um mich trauern oder sich meiner schämen, wenn ich mir in diesem Augenblick die Kehle durchschnitte; und es ist Zeit, ein Ende zu machen.‹
Ich hätte geradesogut gegen einen Bären ankämpfen oder mit einem Irrsinnigen streiten können. Der einzige Ausweg, der mir blieb, war, an ein Fenstergitter zu laufen und das von ihm ausersehene Opfer vor dem Los, das seiner harrte, zu warnen.
›Du tätest besser, heute nacht irgendwo anders Unterkunft zu suchen!‹ rief ich in fast triumphierendem Ton. ›Mr. Earnshaw hat die Absicht, dich zu erschiessen, falls du weiter versuchst, hier einzudringen.‹
›Öffne mir lieber die Tür…‹, du antwortete er und nannte mich bei einem schönen Namen, den ich nicht wiederholen will.
›Ich mische mich da nicht ein‹, erwiderte ich scharf. ›Komm herein und lass dich erschiessen, wenn du Lust hast. Ich habe meine Pflicht getan.‹
Damit schloss ich das Fenster und kehrte zu meinem Platz am Feuer zurück, denn ich konnte keine Angst um sein Leben heucheln. Earnshaw verfluchte mich voller Jähzorn, behauptete, dass ich den Schurken immer noch liebte, und gab mir allerlei Schimpfnamen wegen der niedrigen Gesinnung, die ich bekundete. Und ich dachte im innersten Herzen, ohne Gewissensbisse, welch ein Segen es für ihn wäre, wenn Heathcliff ihn von seinem elenden Leben befreite, und welch ein Segen für mich, wenn er
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