Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
zu versetzen. Er war so ausser sich, dass er die kalte Vorsicht, deren er sich gerühmt hatte, vergaß und sich zu blutiger Gewalttat hinreissen ließ. Ich empfand Freude darüber, dass es mir gelungen war, ihn so in Wut zu versetzen; das Gefühl dieser Freude weckte meinen Selbsterhaltungstrieb, darum brach ich einfach aus, und wenn ich ihm je wieder in die Hände falle, dann kann er sich auf eine furchtbare Rache gefasst machen.
Du weisst, dass Mr. Earnshaw gestern dem Begräbnis hätte beiwohnen sollen. Er blieb zu diesem Zweck nüchtern, einigermaßen nüchtern, ging nicht um sechs Uhr benebelt zu Bett und stand nicht, noch halb betrunken, um zwölf Uhr auf. Die Folge war, dass er sich in einer selbstmörderischen Stimmung erhob, die weder in die Kirche noch zu menschlicher Gesellschaft passte, und darum setzte er sich schließlich an den Kamin und stürzte Schnaps und Branntwein wasserglasweise hinunter.
Heathcliff — es graut mir davor, seinen Namen auszusprechen — ist seit dem vorigen Sonntag bis heute kaum zu Hause gewesen. Ob die Engel ihn gespeist haben oder die bösen Mächte, kann ich nicht sagen, aber er hat seit einer Woche keine Mahlzeit mit uns eingenommen. Er ist erst nach Hause gekommen, wenn es dämmerte, ist in sein Zimmer hinaufgegangen und hat sich dort eingeschlossen — als ob jemand auch nur im Traum Verlangen nach seiner Gesellschaft trüge. Oben hat er unaufhörlich gebetet wie ein Methodist, nur dass die Gottheit, die er anflehte, Staub und Asche ist und dass er Gott, wenn er ihn anrief, seltsamerweise mit dem Teufel verwechselte. Wenn er diese seltsamen Gebete beendet hatte — gewöhnlich dauerte es so lange, bis er heiser war und seine Stimme ihm nicht mehr gehorchte —, machte er sich wieder auf, immer geradenwegs nach Thrushcross Grange hinunter. Ich wundere mich, dass Edgar nicht die Polizei holen und ihn festnehmen ließ. Trotz meinem Kummer um Catherine empfand ich diese Tage der Befreiung von erniedrigender Knechtschaft als Feiertage für mich.
Ich schöpfte wieder so viel Mut, dass ich Josephs ewige Strafpredigten anhören konnte, ohne zu weinen, und nicht mehr wie ein ertappter Dieb im Hause umherschlich wie vorher. Du wirst nicht glauben wollen, dass ich über etwas, was Joseph sagt, weinen konnte, aber er und Hareton sind eine schreckliche Gesellschaft. Lieber noch saß ich bei Hindley und hörte sein entsetzliches Gerede an, als bei dem ›jungen Herrn‹ und seinem getreuen Beschützer, diesem widerwärtigen alten Mann. Wenn Heathcliff zu Hause ist, muss ich mich oft entweder in der Küche in ihrer Gesellschaft aufhalten oder in den feuchten, unbewohnten Zimmern Hunger leiden. Wenn er, wie in dieser Woche, nicht da ist, rücke ich mir einen Tisch und Stuhl an eine Seite des Feuers im ›Haus‹ und kümmere mich nicht darum, womit Mr. Earnshaw sich beschäftigt, und er mischt sich nicht in meine Angelegenheiten. Er ist jetzt ruhiger als früher — wenn niemand ihn reizt —, eher mürrisch und niedergeschlagen, nicht mehr so wütend. Joseph versichert, er sei ein anderer Mensch geworden, der Herr habe sein Herz berührt und ihn erlöst, ›so wie durch Feuer‹. Ich bemühe mich, Zeichen der günstigen Veränderung zu entdecken — aber was geht es mich schließlich an?
Gestern abend saß ich in meinem Winkel und las bis zu vorgerückter Stunde, bis gegen zwölf, in alten Büchern. Bei dem wilden Schneetreiben draussen in mein Zimmer hinaufzugehen, während meine Gedanken ständig zum Kirchhof und dem frischen Grab hin wanderten, war mir unmöglich. Ich wagte kaum, die Augen von dem Buch aufzuheben; denn sofort rückte sein trauriges Bild an dessen Stelle. Hindley saß mir gegenüber, den Kopf in die Hand gestützt; vielleicht dachte er über das gleiche nach wie ich. Er hatte aufgehört zu trinken, als er noch bei klarem Verstande war, und hatte sich seit zwei oder drei Stunden nicht gerührt und hatte nicht gesprochen. Im ganzen Haus war kein Laut zu vernehmen, ausser dem Heulen des Windes, der von Zeit zu Zeit an den Fenstern rüttelte, dem feinen Knistern der Kohlen und dem Knacken der Lichtschere, wenn ich ab und zu den langen Docht der Kerze entfernte. Hareton und Joseph lagen wahrscheinlich schon zu Bett und schliefen fest. Es war sehr, sehr traurig, und während ich las, seufzte ich, denn alle Freude schien mir unwiderbringlich aus der Welt verschwunden zu sein.
Die trübselige Stille wurde endlich durch ein Geräusch an der Küchentür unterbrochen;
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