Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
in Cork getroffen, wenn sie Sophie besucht hatten, und Brians Eltern lebten schon über zehn Jahre in England. Ganz würde ich mich den Erinnerungen sowieso nie entziehen können. Warum also nicht Kinsale?
Ich umarmte die beiden voller Dankbarkeit, ließ mich zum Auto bringen und sank erschöpft auf die Rückbank.
»Dann fahren wir erst einmal bei dir vorbei, damit du ein paar Sachen einpacken kannst«, sagte Mary.
»Nein. Bitte. Lasst uns einfach direkt nach Kinsale fahren. Ich will nicht mehr zurück.«
Noch am selben Abend musste Sophie zwei große Koffer mit meinen Kleidern und dem Wichtigsten aus dem Haus in Cork geholt und bei ihren Eltern vorbeigebracht haben, denn als ich morgens in ihrem alten Jugendzimmer erwachte, fand ich alles, was ich brauchte. Ich hatte nichts davon bemerkt, so fest hatte ich geschlafen. Trotzdem fühlte ich mich matt und wollte nicht aufstehen.
Diese dumpfe Müdigkeit sollte noch sehr viel länger anhalten. Ralph und Mary kümmerten sich rührend um mich. Sie machten mit mir Spaziergänge durch die eisige Winterluft, fuhren mich nach Dublin, um mit mir die Weihnachtsmärkte zu besuchen, luden mich ins Kino ein, veranstalteten gesellige Abende mit Freunden. Sie taten all das, obwohl sie ein Pub zu führen hatten, und es war nur deshalb möglich, weil der halbe Ort sie – und damit auch mich – unterstützte, wann immer es nötig war.
Ich fühlte mich die ganze Zeit über, als säße ich hinter einer Glasscheibe. Die Welt um mich herum kannte nur noch leise Töne und graue Farben. Sie hatten ihren Duft verloren, und Wärme erreichte mich schon lange nicht mehr. Die Kälte in mir blieb hartnäckig und ließ sich durch nichts vertreiben.
Zu meinem Onkel und meiner Tante hatte ich immer ein herzliches Verhältnis gehabt, und Sophie war seit meinen Teenagertagen meine beste Freundin. Ich fühlte mich bei ihnen gut behütet, aber sie konnten nicht die Leere füllen, die ich in mir trug. Niemand schien es zu können, und auch wenn mir jeder versicherte, dass selbst dieser unermesslich große Schmerz eines Tages immer kleiner werden würde, bis er nur noch als Erinnerung nachhallte, konnte ich nicht glauben, irgendwann etwas anderes zu fühlen.
Als vier Wochen vergangen waren und es mir immer noch nicht besser ging, beschloss ich, meinen Job an der Uni zu kündigen. Weihnachten und Neujahr überstand ich nur, weil mir meine Ärztin ein Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Eines Abends hörte ich, wie Mary zu Ralph sagte: »Hoffentlich tut sie sich nicht noch was an, so verzweifelt, wie sie ist.« Sie saßen in ihrem Wohnzimmer und hatten nicht gehört, dass ich mein Zimmer verlassen hatte und auf den Flur getreten war. Ich zog mich leise zurück, setzte mich auf mein Bett und dachte darüber nach. Mich umbringen? War das eine Lösung? Ich musste einsehen, dass ich nicht einmal dazu die Energie hatte.
Mitte Januar riss ich mich zusammen und löste unseren Haushalt auf. Von dem Geld, das ich aus dem Verkauf bekam, zahlte ich unsere Schulden zurück. Was übrig blieb, reichte nicht, um mir eine eigene kleine Wohnung zu kaufen, und Ralph bot mir an, so lange zu bleiben, wie ich wollte. Dass ich ihm Miete zahlte, akzeptierte er nicht, also half ich in seinem Pub, dem Jacob’s Ladder, aus, wo immer jemand gebraucht wurde.
Sophie zwang mich im Februar zu einem gemeinsamen Urlaub auf Madeira, damit ich »mit etwas mehr Licht und Wärme die Winterdepression« austrieb. Was für eine Untertreibung, meinen Zustand Winterdepression zu nennen! Ich ließ mich zwei Wochen lang von ihr über die Insel schleppen, aber ich war nicht in der Lage, die prächtigen Farben, die wunderbaren Gerüche aufzunehmen. Am allerwenigsten hatte ich am Essen Spaß. Es schmeckte immer gleich, egal was man mir vorsetzte, und nach wenigen Bissen ließ ich es stehen. Seit Brians Tod hatte ich mittlerweile acht Kilo verloren. Ich ärgerte mich darüber, dass ich Sophie keine gute Gesellschaft war. Schließlich hatte sie diese Reise nur meinetwegen unternommen. Aber Sophie sagte nur: »Lass dir Zeit. Irgendwann kommt die Sonne bei dir an.«
Die Wochen und Monate zogen an mir vorbei und blieben grau. Sophie mailte mir Fotos, die sie von uns auf Madeira gemacht hatte. Ich konnte mich kaum erinnern, an diesen Orten gewesen zu sein. Sophie war nun die einzige Freundin, die ich noch hatte. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Universität hatten außer Beileidskarten nichts mehr von sich hören lassen. Unsere Nachbarn in
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