Emmas Story
überbrücken. »Wir verlieren sie und ihren Mann wirklich nicht gern. Aber mit drei Kindern brauchen sie jetzt doch etwas mehr Platz.«
Frau Kessel öffnet uns mit einem dicken Säugling auf dem Arm, der in ein Umhängetuch gebettet mit weit aufgerissenen Augen in die Welt blickt.
»Guten Tag! Nett, dass wir uns Ihre Wohnung mal anschauen dürfen«, begrüße ich sie.
Lu sagt gar nichts, reicht nur ihre Hand zur Begrüßung und beugt sich kurz vor, um dem Baby eine Grimasse zu schneiden. Frau Kessel und Frau Sander gucken verwundert. Ich würde Lu gern einen unauffälligen Stoß in die Rippen geben. Aber leider stehen wir zu weit von einander entfernt.
Die Wohnung ist ansprechend geschnitten und mit ein paar hübschen Details versehen. Ein großes Bad mit Fenster. In der Diele genügend Platz, um dort einen mächtigen Garderobenschrank aufzustellen. Die Zimmer entsprechend ihrer Funktion in Größe und Lage ideal.
Doch was nutzt das alles, wenn hier mittlerweile eine derart kühle Atmosphäre herrscht, dass mich fröstelt.
Ich überlege bereits, wie wir uns möglichst bald wieder verabschieden können, als Frau Sander uns von der Küche hinüber ins Wohnzimmer führt.
Plötzlich ist der Blick nicht mehr zu halten.
Meine Augen machen sich quasi selbstständig und huschen quer durch den Raum, ab durchs Fenster und …
»Geil!«, entfährt es Lu da in einer Lautstärke, die ich nur ungehemmt nennen kann. Sie stürmt an der geschmackvollen Ledergarnitur vorbei zur offen stehenden Balkontür und ist draußen.
Es ist das erste Wort, das sie bei unserem merkwürdig krampfigen Besuch hier von sich gibt. Frau Sander und ich sind gleichzeitig zusammengezuckt.
Frau Kessel sieht ein bisschen peinlich berührt aus, grinst aber mit leicht abgewandtem Gesicht in sich hinein.
Ich lächele Frau Sander mit verlegenem Augenaufschlag an. »Na ja, Recht hat meine Freundin ja. Der Ausblick ist wirklich wundervoll!«
Wir gehen alle drei durchs Zimmer und gesellen uns zu Lu, die völlig begeistert am Balkongeländer steht und ins Tal sieht.
»Wahnsinn! Ist das nicht der absolute Hammer?!«, sagt sie laut. Vielleicht zu mir. Vielleicht doch eher zu sich selbst. Es ist nicht zu erkennen, weil sie unverwandt geradeaus schaut.
Dort unten sieht man weiße Dreiecke, die Segel der kleinen Boote, geschäftig hin und her kreuzen. Umstanden vom frischen Frühlingsgrün leuchtet das Blau des Wassers so strahlend, dass der Himmel geradewegs hineinzufallen scheint.
An so etwas hätte ich auch bei der gestelztesten Anzeige nicht mal zu denken gewagt.
›Schade, dass Armin etwas anderes vorhatte‹, denke ich, nicht ganz ohne einen Hauch von Genugtuung.
Wenn ich dem Geländer den Rücken zudrehe, kann ich vom Balkon aus nicht nur ins große Wohn- sondern auch in das kleinere Schlafzimmer sehen. Viel Licht. Viel Weite.
Ich möchte tief einatmen, die Lungen füllen mit diesem Blick und diesem Versprechen, das darin liegt.
»Natürlich können Sie hier auch das Arbeits- oder Kinderzimmer einrichten«, erklärt mir da jedoch gerade Frau Sander, während Frau Kessel eifrig dazu nickt: »Reine Geschmackssache, ob man den Balkon lieber am Schlaf- oder am Wohnzimmer hat. Was sagten Sie noch, haben Sie Kinder? «
»Keine Kinder, nein«, antworte ich und gehe hinüber zur Tür in den kleineren Raum, der selbstverständlich das Schlafzimmer würde.
»Och, wie schade.« Frau Sanders Haare sind beinahe weiß. Sie trägt sie in einem für eine ältere Frau ungewöhnlichen langen und dicken Zopf. Es lässt sie aussehen wie die zivilisierte Nachfahrin eines uralten deutschen Indianerstammes – gekleidet in eine dunkelgrüne, mit Echt-Horn-Knöpfen verzierten Trachtenjacke. Sie steht dicht bei Frau Kessel und streichelt dem Baby sacht über die Wange.
Lu tritt zu mir und sagt: »Es muss affenscharf sein, morgens mit einem Kaffee und frischen Croissants im Bett zu sitzen und diesen Ausblick zu genießen, was?«
Ich sehe sie irritiert an.
Wenn ich mit Armin unterwegs bin, sagt er auch manchmal solche Dinge. Vielleicht nicht mit Ausdrücken wie affenscharf, aber doch mit ganz ähnlichem Inhalt. Dann lächele ich. Und vielleicht antworte ich etwas, das ihm zeigt, dass es mir genauso geht.
Aber bei Armin, da weiß ich ja auch, dass wir den gleichen Geschmack haben. Dass wir an den fremden Einrichtungen die gleichen Dinge mögen oder abstoßend finden. Da ist es ganz normal, dass er etwas ausspricht, was ich gerade gedacht habe. Aber bei Lu?
»Wir
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