Emmas Story
Weintrauben, dann den letzten Karamell-Pudding aus der Küche an meinen Schreibtisch. Wirklich Hunger habe ich nicht.
Ich denke sogar daran, meine Mutter anzurufen. Mit meinem Vater telefoniere ich so gut wie nie. Auch meine Mutter und ich hängen nicht ständig an der Leitung. Alle drei Wochen etwa ein Telefonat. Das genügt uns beiden zum Kontakthalten und Neuigkeitenaustauschen.
Es fällt mir allerdings auf, dass ich in den letzten Tagen vermehrt an meine Eltern denke. Natürlich liegt das an Lu.
Sie ist wie ein Kieselstein in den See der Erinnerungen gefallen. Vom Punkt ihres Eintauchens ausgehend, ziehen kleine, kaum sichtbare Wellen mit Bildern an meinen inneren Strand. Keine besonderen Momente, nur Kleines, Unwichtiges, fast schon Verlorenes.
Die Terrasse im Sommer, mein Vater am Grill, lauthals lachend, weil der Nachbarshund ein Schnitzel geklaut hat. Meine Mutter, wie sie den Weihnachtsbaum schmückt und leise Stille Nacht singt. Wir drei vor dem Fernseher bei einem Miss-Marple-Film.
Bilder, die allesamt aus meiner Kinder- und Jugendzeit stammen und beinahe ein wenig Heimweh erzeugen. So was Dummes. Als wäre früher irgendetwas besser, schöner, reicher gewesen. Ich fange schon genauso an, die Vergangenheit zu verklären, wie meine Oma es früher getan hat.
Ich weiß genau, wenn ich meine Mutter jetzt anrufe, werde ich von Lu erzählen. Ich will aber nicht von Lu erzählen. Niemand anderem und mir selbst auch nicht. Weil ich nicht weiß, wie ich von ihr erzählen soll. Unser Spaziergang im Wald wirkt noch nach, auch wenn er schon ein paar Tage her ist.
Daher kommt mir Armins sms gerade recht: ›Lust auf spontane Besichtigung von Freigangkatzen? Um sechs in der Krötengasse 23. Du auch?‹
Wunderbar! Eine tolle Gelegenheit, ihn auf seinen wiederholten Besuch bei WG -Daniel anzusprechen.
Armin erwartet mich bereits vor dem Haus, als ich ankomme.
»Super pünktlich!«, stellt er mit Blick auf seine Uhr fest.
»Nein«, erwidere ich. »Zu früh. Pünktlich ist pünktlich. Zu spät ist zu spät und zu früh ist zu früh.«
Armin ist immer zu früh.
So wie Lu immer zu spät ist.
Ich schüttele kurz den Kopf, wie um eine lästige Fliege loszuwerden.
»Gehen wir rein?«
Das Haus sieht schon von außen sehr individuell aus. Es ist ein kleiner Klotz mit einem grünen Dach, das nach Süden zum Garten hin steil abfällt. Dort wo kein Gras und Moos wächst, sind Solarzellen angebracht, die sich auf Ständern mit Scharniergelenken befinden.
»Die drehen sich mit der Sonne«, erklärt uns Irmgard, wie sich die Vormieterin gleich sehr persönlich vorstellt. Sie ist extra aus der Wohnung im ersten Stock heruntergekommen, um uns auf diese Besonderheit des Hauses gleich zu Anfang hinzuweisen. »Oben unterm Dach hört man es manchmal sogar, wenn es windstill ist. Knirsch, knirsch.« Sie kichert ein bisschen, und Armin wirft mir einen viel sagenden Blick zu.
»Die Miete ist wegen dieser aufwendigen Anlage ein bisschen höher. Aber dafür müsst ihr auch nichts an die Stadtwerke zahlen für den Strom. Nur das Wasser eben. Wasser werdet ihr ja trotzdem benutzen, nicht? Ich geh mal vor. Oben könnt ihr euch in Ruhe alles anschauen. Ist ja ein alternatives Haus. Da geht alles ein bisschen langsamer. Hat aber auch seinen Vorteil.« Sie lacht über ihre eigenen Worte und nimmt die erste Stufe.
»Irmgard scheint ja eine echte Witzpille zu sein«, flüstert Armin mir leise zu und hakt sich bei mir ein, während wir die schmale Holztreppe hinaufsteigen.
»Können ja nicht alle so reizend sein wie Daniel«, raune ich unverfänglich zurück.
Armin schaut mich von der Seite an. »Sie hat’s dir erzählt, wie?«
»Sicher hat Lu es mir erzählt. Sie war schließlich gerade auf dem Weg zu einer Verabredung mit mir, als du ihr in die Arme gerannt bist. Wohlgemerkt eine Verabredung, die ich eigentlich lieber mit dir gehabt hätte. Ich habe mich natürlich gefragt, wieso du einen heterosexuellen Beinahe- WG -Genossen lieber besuchst, als mit deiner besten Freundin eine herrliche Wohnung anzusehen«, sage ich. »Im Übrigen hast du echt etwas verpasst. Die Wohnung war ein Traum! Das war ja bei der Anzeige schon klar. Seeblick.«
Armin seufzt. »Ich wusste, dass sie es dir wahrscheinlich sagen würde. Da hab ich lieber erst gar nicht drum gebeten, es zu verschweigen.«
»Das ist keine Antwort! Warum Daniel und nicht ich?«
»Weil mich das besser ablenkt, deshalb«, brummt Armin. »Wenn ich Kummer habe, tut es mir manchmal
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