Emotionen. Gefühle literarisch wirkungsvoll einsetzen
fühlen als Sie, obwohl die Grundgefühle in bestimmten Situationen von den meisten Menschen ähnlich empfunden werden. Stellen Sie sich vor: Jemand hängt an einer Hochhauswand an einem dünnen Seil mit dem Kopf nach unten und schaut in die Tiefe, auf die Straße weit unter sich. Wahrscheinlich fühlt er, wie Sie es würden: Todesangst, Lähmung, Endgültigkeit, dass sein Leben nur noch einem Faden hängt. Gefühle wie diese in einer solchen Situation kann jeder nachvollziehen. Und trotzdem sind nicht Sie es, der da hängt, sondern ein anderer – mit dem Sie sich bis zu einem gewissen Punkt identifizieren.
Stellen Sie sich jetzt vor, Ihr fiktiver Charakter macht den Motorradführerschein. Das kann Angst oder Jubel bei ihm auslösen. Sie selbst waren vielleicht ängstlich, als Sie Autofahren lernten, und ein Motorrad haben Sie noch nie gefahren. Ihr fiktiver Charakter empfindet bei den ersten Fahrstunden ganz anders als Sie. Da hilft nur eines: Geben Sie Ihren wichtigsten Charakteren Eigenschaften, bevor Sie zu schreiben beginnen. Entwerfen Sie ein Profil: Alter, Geschlecht, Lebenssituation, darüber hinaus seine Erscheinung, Eigenschaften und typische Verhaltensweisen. Sie kennen seine Stärken und Schwächen, daraus ergibt sich, wie er in bestimmten Situationen handelt. Wie verhält er sich bei der Arbeit, im Schwimmbad (oder geht er nicht ins Schwimmbad?), im Restaurant, in seiner Wohnung? Welches Lokal, welche Freunde passen zu ihm? Wenn Sie sich ein solches Profil geschaffen haben, können Sie davon ableiten, wie er in verschiedenen Situationen empfindet.
Wenn Sie jedoch Ihre Hauptfigur autobiografisch ableiten, wenn sie aus Ihrem eigenen Ich heraus entstanden ist, dann machen Sie sich darüber Gedanken, ob diese Figur sich von Ihnen unterscheiden soll und inwiefern. Im autobiografischen Text gewinnt die Hauptfigur ein Eigenleben, Sie arbeiten mit ihr wie mit einem fiktiven Charakter.
Sie können Ihre Figuren eine Spur stärker machen als Sie selbst es sind. Geben Sie ihnen kräftige Gefühle mit, lassen Sie sie in Situationen durchhalten, in denen Sie selbst vielleicht aufgeben würden. Wenn Sie eine fiktive Persönlichkeit etwas stärker machen als in Wirklichkeit, wirkt die Figur dennoch glaubwürdig. Das liegt daran, dass man oft andere Menschen als stärker wahrnimmt, als diese sich tatsächlich fühlen. Die Leser wollen sich durch den Protagonisten mitziehen lassen, was nicht heißt, dass er keine Schwächen haben darf. Aber gerade die Verletzlichkeit einer fiktiven Figur wirkt dann überzeugend, wenn sie an anderer Stelle Stärke zeigt.
Ihr Charakter muss unverkennbar sein, auch in seinem Handeln. Aber er hat genauso gemischte Gefühle wie jeder andere. Ein ängstlicher Mensch reagiert in einer bestimmten Situation mutig. Wenn ein Mensch zum Beispiel in einer schwierigen Situation über sich hinauswächst, ist dies ein wichtiges Element für Ihren Text. Denn Ihr Charakter muss sich entwickeln, er muss am Ende ein anderer sein als zu Beginn. Lebendig wird Ihr Text auch dadurch, wenn Sie mit mehreren Figuren arbeiten, die unterschiedlich angelegt sind. Sie reagieren auf ähnliche Reize mit ganz unterschiedlichen Gefühlen. Spielen Sie Ihre Figuren gegeneinander aus, aber würdigen Sie jeden einzelnen Charakter in seiner Authentizität.
Anregung
Ein ganz anderer
Schreiben Sie einige Eigenschaften auf, die Sie für sich für typisch halten. Dann entwerfen Sie eine Figur, die ganz gegensätzlich von Ihnen ist. Versetzen Sie die Figur in eine Situation, in der sie ganz anders reagieren würde als Sie. Welche Gefühle treten auf?
Gefühlsschablonen einsetzen
An anderer Stelle wurde bereits gesagt, dass unsere Gefühle »codiert« sind. Was bedeutet das? Bestimmte Schemata formen Gefühle und lösen sie aus. Das gilt auch für Texte und Filme. Gesten oder Ereignisse, die emotionalisierend wirken, werden in die Handlung eingewoben. In dem Film Ghost – Nachricht von Sam (1990) mit Patrick Swayze und Demi Moore, in dem es um die Liebe eines Verstorbenen zu seiner noch lebenden Partnerin geht, wirkt ein geflügeltes Wort in dieser Weise. Das Wort »dito« (»besagt«) wird von den Partnern in bewegenden Momenten ausgesprochen. Die Wiederholung dieses Wortes auch in schwierigen Situationen löst beim Zuschauer Rührung aus.
Auch in dem Film E-Mail für dich (1998) mit Mag Ryan und Tom Hanks wird mit Worten gearbeitet. Die Buchhändlerin und der Büchermogul kennen sich aus dem Internet – sie weiß bis zum
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