Emotionen. Gefühle literarisch wirkungsvoll einsetzen
Gefühle der Figuren mitempfinden kann und sich vielleicht sogar darin wiedererkennt. Der Leser setzt sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinander und denkt nicht an die möglichen Gefühle des Autors.
Wie erreicht es ein Autor, dass sich der Leser in seinen eigenen Emotionen angesprochen fühlt?
Das Wichtigste ist, dass Sie Distanz zum Erlebten und zu Ihren Gefühlen haben. Sie erreichen das, indem Sie hinter die von Ihnen beschriebene Welt einen Schritt zurücktreten und die Gefühle zwischen den Zeilen andeuten, statt sie direkt zu benennen. Im wirklichen Leben teilen Sie vielleicht Ihren Gesprächspartnern Ihre Gefühle deutlich mit, im literarischen Text dagegen ist Zurückhaltung angebracht. Beschreiben Sie die Situationen, deuten Sie an, was Ihre Figuren bewegt. Schreiben Sie nie direkt, wie aufwühlend, schrecklich oder bedeutungsvoll etwas ist.
In Aglaya Veteranyis Buch Warum das Kind in der Polenta kocht heißt ein Satz: »Vielleicht haben uns unsere Eltern weggegeben, weil ich nicht an den Haaren hängen will.«
Hier wird vieles auf einmal gesagt: Die Eltern haben ihr Kind weggegeben, es hat an den Haaren gehangen, diese Qual wollte es nicht mehr. Man muss wissen: Es handelt sich um ein Artistenkind, das Luftakrobatin werden sollte. Dies geht aus dem Satz hervor, in »nicht an den Haaren hängen wollen« kommt der Schmerz zur Sprache, den diese Kunst verursacht: Der Beruf einer Artistin ist hart und schwer, doch dies steht in keinem Verhältnis dazu, dass die Mutter ihre Töchter in ein Heim gegeben hat.
Stellen Sie sich vor, Sie würden stattdessen schreiben: »Es war sehr schmerzhaft gewesen, jeden Abend an den Haaren in der Zirkuskuppel zu hängen, aber ich habe meine ganze Kraft gegeben, alles immer richtig zu machen. Dennoch steckte meine Mutter mich und meine Schwester in ein Heim. Wie konnte meine Mutter nur so herzlos sein?« Das wäre eine ausführliche Paraphrase von Veteranyis kurzem Satz – und Sie würden dem Leser die Gefühle und moralische Wertung vorschreiben, statt dies durch knappe Andeutungen im Leser entstehen zu lassen. Sie würden Ihrem Leser sagen, was er zu empfinden hat. Immer dann, wenn Ihre eigenen Gefühle stark sind, verknappen und verdichten Sie! Schildern Sie bewegende Ereignisse bewusst distanziert und sachlich und arbeiten Sie mit Andeutungen. Lassen Sie dem Leser Raum zum Ergänzen.
Wenn Sie an einer einzelnen Szene arbeiten, lösen Sie sich zunächst von Ihrer Prämisse. Konzentrieren Sie sich ganz auf den emotionalen Gehalt der Gegenstände, Ereignisse und Verhaltensweisen Ihrer Figuren. Suchen Sie Worte, die das vermitteln, was Sie vor sich sehen. Wenn Sie Ihren ersten Entwurf lesen, können Sie die emotionale Wirkung spüren, aber auch feststellen, welche Passagen ohne Widerhall bleiben. Kürzen Sie leere Beschreibungen, beschäftigen Sie sich mit den emotional dichten Passagen noch weiter.
Manche Gefühle, wie Ängste, die Sie zu sehr bedrängen, Probleme, die sich aus der eigenen Lebensgeschichte ergeben haben, sind für die literarische Umsetzung zu nah. Distanz erreichen Sie, wenn Sie eine Person erfinden oder sich in das Problem einer anderen Person hineinversetzen. Emotionales Schreiben lebt von der Schwingung, mal sind Sie es, mal ein anderer, der erlebt und empfindet. Aus der Bündelung beider Perspektiven entsteht der fiktive Charakter. Verdichten Sie die Innen- und die Außensicht zu einer Erzählperspektive, so dass die Antinomie »Ich – ein anderer« in der Figur lebt.
Anregung
Emotionale Wirkung überprüfen
Markieren Sie in einem Text, den Sie bereits geschrieben haben, die Stellen, die Sie für emotional besonders dicht halten. Was zeichnet diese Stellen aus? Geben Sie Ihren Text (ohne Markierungen) jemand anderem zu lesen (am besten jemandem, der über Sie möglichst wenig weiß) und bitten ihn, dasselbe zu tun. Wo sind Übereinstimmungen, wo sind Abweichungen? Bitten Sie Ihr Gegenüber, seine Markierungen zu begründen. Sollte es der Fall sein, dass Passagen, die auf Sie sehr stark emotionalisierend wirken, Ihren Leser »kalt« lassen, könnte es daran liegen, dass Nähe und Distanz zum fiktiven Charakter noch nicht im Lot sind.
Der fiktive Charakter
Der fiktive Charakter, das sind nicht Sie. Aber Sie können ihm Gefühle mitgeben, die Sie selbst gut kennen, wenn Sie ihn zum Beispiel in eine Situation bringen, die Sie vielleicht in ähnlicher Weise auch schon erlebt haben. Selbstverständlich kann Ihr fiktiver Charakter auch ganz anders
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