Empfindliche Wahrheit (German Edition)
hatte, als sie mit ihrem selbstausgestellten Rezept zur Apotheke gelaufen war.
Sie hatte ihm die Kleider ausgezogen und seinen nackten Körper mit professioneller Sachlichkeit gewaschen; zu seinen grotesk geschwollenen Genitalien hatte sie nichts gesagt. Sie hatte sein Herz abgehört, ihm den Puls gefühlt, den Unterleib abgetastet, ihn auf Knochenbrüche und Bänderverletzungen untersucht, hatte bei dem Gitter aus Risswunden um seinen Hals verweilt, wo sie ihn erst hatten erwürgen wollen und dann doch nicht, hatte Eisbeutel auf seine Blutergüsse gelegt und ihm Paracetamol gegen die Schmerzen gegeben und ihm den Korridor entlanggeholfen, indem sie seinen linken Arm an ihrer linken Schulter festhielt und ihn mit der rechten Hand um die rechte Hüfte fasste.
Aber bis jetzt waren die einzigen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren, Anordnungen gewesen wie: »Bitte versuch stillzuhalten, Toby« oder »Das ziept jetzt vielleicht ein bisschen« und, vor relativ kurzem: »Gib mir deinen Schlüssel und rühr dich nicht vom Fleck, bis ich zurück bin.«
Nun kam das Verhör:
»Wer war das, Toby?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und warum macht jemand so was, weißt du das ?«
Als Vorgeschmack, dachte er. Als Warnung. Zur Strafe dafür, dass ich geschnüffelt habe, und als Abschreckung, falls ich weiterschnüffle. Aber es war alles zu verschwommen und zu anstrengend, also sagte er lieber nichts.
»Na, zumindest hatten sie offenbar Schlagringe«, erklärte sie, als ihr das Warten zu dumm wurde.
»Oder vielleicht einfach Ringe an den Fingern«, schlug er vor und dachte an Elliots Hände auf dem Lenkrad.
»Ich brauche dein Einverständnis, wenn ich die Polizei holen will. Darf ich sie holen?«
»Sinnlos.«
»Wieso sinnlos?«
Weil die Polizei nicht die Lösung ist, sondern Teil des Problems. Aber auch das war etwas, was sich nicht so leicht erklären ließ, darum versuchte er es lieber gar nicht erst.
»Es ist sehr gut möglich, dass du einen Milzriss hast, was lebensbedrohlich wäre«, fuhr Emily fort. »Du musst ins Krankenhaus und das abklären lassen.«
»Mir geht’s gut. Ich bin ganz geblieben. Du solltest heimfahren. Bitte. Sie könnten zurückkommen. Ganz ehrlich.«
»Du bist nicht ganz geblieben, und du gehörst behandelt, Toby«, gab sie scharf zurück, und das Gespräch hätte ähnlich unproduktiv weitergehen können, wäre nicht aus dem Blechkasten über Emilys Kopf just in diesem Moment das Hicksen der Türglocke ertönt.
Sie hörte auf, die Suppe umzurühren, sah zu dem Kasten hoch und dann fragend zu Toby, der schon die Achseln zucken wollte, sich dann aber besann.
»Geh nicht hin«, sagte er.
»Wieso nicht? Wer ist das?«
»Niemand. Niemand, dem du aufmachen willst. Bitte.«
Und als sie seinen Schlüssel vom Abtropfbrett nahm und zur Küchentür ging:
»Emily. Das ist meine Wohnung. Ignorier es einfach.«
Es klingelte neuerlich, ein mehrfaches Hicksen, dringlicher als das erste.
»Ist es eine Frau?«, fragte sie, immer noch an der Küchentür.
»Es gibt keine Frau!«
»Ich kann mich nicht verstecken, Toby. Und ich will mich nicht so fürchten müssen. Würdest du aufmachen, wenn du auf dem Damm wärst und ich nicht da wäre?«
»Du kennst diese Leute nicht! Schau mich an!«
Sie blieb unbeeindruckt. »Wahrscheinlich dein Nachbar von unten, der sich nach dir erkundigen will.«
»Himmel noch mal, Emily, hier geht’s nicht um Nachbarschaftshilfe.«
Aber sie war schon weg.
Mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem lauschte er.
Er hörte den Schlüssel im Schloss, er hörte ihre Stimme, dann eine viel leisere Männerstimme, gesenkt wie in einer Kirche – keine Stimme, die er in seinem überspannten Zustand erkannte, auch wenn ihm war, als müsste er es von Rechts wegen.
Er hörte die Wohnungstür zufallen.
Sie ist rausgegangen, um mit ihm zu reden.
Aber wer zum Teufel war der Kerl? Hatte er sie über die Schwelle gezerrt? Waren sie zurückgekommen, um sich zu entschuldigen – oder um da weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten? Oder fürchteten sie, ihn versehentlich doch umgebracht zu haben, und Crispin schickte sie zum Nachsehen? In der Flut der Angst, die in ihm aufgewallt war, schien alles gleich möglich.
Immer noch draußen.
Was macht sie da nur?
Hält sie sich für unverwundbar?
Was haben sie mit ihr gemacht? Minuten wie Stunden. Gott im Himmel!
Die Tür öffnete sich. Fiel wieder zu. Langsame, bedächtige Schritte näherten sich über den Korridor. Nicht die von Emily.
Weitere Kostenlose Bücher