Empty Mile
arbeiteten uns schwitzend und keuchend hinauf. Oben angekommen drehten wir uns um und gingen, als wir wieder ruhiger atmeten, auf dem Grat entlang in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren.
An der Stelle unseres Aufstiegs war die Kuppe vielleicht zweihundert Meter breit, wurde jedoch zunehmend schmaler, je näher wir dem Fluss und der Wiese kamen. Hier gab es so gut wie keine Vegetation. Ein paar niedrige Sträucher fanden Halt in dem felsigen Untergrund, daneben einige Halme trockenen, zähen Grases, aber das war auch schon alles. In der leichten Brise kühlten Stan und ich nach dem anstrengenden Aufstieg schnell ab.
Wir befanden uns an die zwanzig, fünfundzwanzig Meter über dem Umland; unter uns erstreckte sich der Wald wie ein wogendes grünes Meer. Wenn ich den Blick darüber hinwegschweifen ließ, sah man weit und breit kaum einen Hinweis auf Menschen – einen Abschnitt des Wirtschaftswegs, hin und wieder einen Strommast, eine dünne Rauchsäule im Westen …
Wir passierten die Wiese linker Hand. Ich sah unsere Blockhütte und das Haus von Millicent und Rosie. Wäsche hing dahinter an der Leine, aber die Brise hier oben wehte nicht bis ins Tal, die Wäsche sah reglos aus.
Das Ende der Felsklippe bestand nicht aus einem lotrechten Hang, sondern einer Abfolge vertikaler, zerklüfteter Stufen, die einen gebrochenen Steilhang bildeten, als wäre die Kante des Plateaus es irgendwann leid gewesen, sich aufrecht zu halten, und erschöpft auf die Knie gesunken.
Vor uns erstreckte sich der Wald bis zu einer nahen Hügelkette, hinter der höhere, zerklüftete Gipfel aufragten. Bei den Bäumen handelte es sich überwiegend um Nadelbäume, doch vereinzelt sah man auch Laubbäume in herbstlichen Farben.
Von rechts, auf der anderen, der Wiese zugewandten Seite der Felsklippe, floss der Swallow als lange, gerade Linie auf uns zu. Meilen entfernt schoss er über flache Stromschnellen hinweg und strömte brodelnd unter der Brücke in die Stadt, aber hier war sein Lauf ruhig. Der Fluss näherte sich direkt dem abgestuften Hang des Felsens, wich jedoch fünfzig Meter entfernt von seinem Verlauf ab und begann jene ausgeprägte Biegung, die um den Felsen herumführte und zur Kurve von Empty Mile wurde.
Ich folgte ihr von rechts nach links, drehte mich langsam auf den Füßen und ließ den Blick über die Wasserstraße schweifen. Möglicherweise hatte der Fluss immer diesen Verlauf gehabt. Die Gräben und Mulden des Landes und was sonst noch den Lauf eines Flusses bestimmen mochte, könnten die Biegung verursacht haben. Aber es ließ sich auch unschwer ein anderes Szenario entwerfen – dass der Hang des Felsplateaus ein neueres landschaftliches Merkmal darstellte, das sich dem Flusslauf in den ursprünglichen Weg geschoben und ihn so gezwungen hatte, sich ein neues Bett zu suchen, wodurch die Biegung entstand, die heute existierte.
Ich hatte die Luftaufnahme mitgebracht und verglich sie mit der umliegenden Landschaft. Stan sah mir über die Schulter und folgte meinem Beispiel, dann zuckte er gelangweilt die Achseln, ging zum äußersten Ende des Plateaus und schirmte die Augen ab wie ein Pfadfinder, der die Ferne sondiert. Empty Mile und unser Grundstück lagen links von meiner Position. Ich sah auf die Bäume hinab, die die Wiese vom Wasser trennten. Aus dieser bescheidenen Höhe schienen sie anfangs eine solide Masse zu sein, in der sich kein Abschnitt vom anderen unterschied. Aber mit dem Foto als Hilfe erkannte ich gerade noch eine Schneise etwas dünnerer Bäume, die den geraden Flusslauf fortsetzte bis zur anderen Seite der Kurve.
Ich dachte an den Vortrag, den Marla und ich bei der Elephant Society, wenigstens zu Teilen, gehört hatten – was manchmal mit Flussläufen passierte –, und daran, dass mein Vater und Gareth sich dafür interessiert hatten. Und ich überlegte mir, ob mein Verdacht möglicherweise wahr sein könnte.
Stan und ich kehrten um und kletterten den Hang hinunter zur Wiese und zu unserer Blockhütte. Ich sagte nichts zu ihm über das Foto, den Fluss oder die Bäume. Zu Marla sagte ich auch nichts, als sie am Abend nach Hause kam. Denn ich wollte ihnen zwar liebend gern etwas Grund zur Hoffnung geben, gleichzeitig wollte ich aber nicht derjenige sein, der ihnen diese Hoffnung wieder nahm, falls ich mich irrte.
Doch während ich diese spezielle Fallgrube vermied, während ich versuchte, alle vor einer Enttäuschung zu bewahren, brachte uns die Nacht, wie so viele Tage und Nächte
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