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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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schüttete sie mehrmals täglich auf die Handfläche, um sich »aufzuladen«. Er machte es auch einmal, während wir auf der Veranda saßen, holte die Insekten heraus wie ein Drogensüchtiger seinen Stoff, mit schlechtem Gewissen, aber außerstande, es nicht zu tun.
    Wir unterhielten uns eine Weile über Belanglosigkeiten, mampften Chips, bis Stan, der mehrere Minuten zu der Baumreihe gesehen hatte, die den Fluss abschirmte, die Stirn runzelte.
    »Johnny, findest du es nicht auch merkwürdig, dass manche der Bäume da unten, wenn man zwischen ihnen steht, dünner sind als überall sonst? Ich finde das merkwürdig, dass die Bäume so anders sind.«
    Vielleicht hatte ich das unterschwellig ebenfalls bemerkt und im Unterbewusstsein schon darüber nachgedacht. Vielleicht war ich in dem Moment auch einfach nur entspannt genug, dass eine spezielle Nervenzelle feuerte und die richtigen Synapsen miteinander verband. Was auch immer, Stans Frage, die besondere Wortwahl, die er benutzte, führten mich plötzlich zu der Überlegung, ob ich möglicherweise doch die Lösung für das Rätsel besaß, warum mein Vater Empty Mile gekauft hatte.
Die Bäume sind anders …
    Ich stand auf und ging zu dem Schuppen hinter der Blockhütte, wo wir Feuerholz und alle möglichen Vorräte lagerten. Dort stand die Truhe meines Vaters in einer Ecke unter der Plane. Ich schlug den Ordner auf, in dem ich alles sammelte, was mit Empty Mile zu tun hatte. Darin befanden sich unter anderem die Tagebuchseiten, der Kaufvertrag, die Urkunde der Überschreibung an mich … und das Original der Schwarz-Weiß-Aufnahme, die mein Vater hatte rahmen lassen.
    Ich nahm das Foto aus dem Rahmen und drehte es um. Auf der Rückseite las ich in der Handschrift meines Vaters die Worte, die Stan fast wörtlich so gesprochen hatte:
Die Bäume sind anders.
Ich betrachtete die Vorderseite des Fotos eingehender und fand das kleine Rechteck des Dachs unserer Hütte. Von da folgte ich dem Verlauf der Wiese bis zur Grenze der Bäume, die in dem Halbrund der Biegung des Swallow in Empty Mile standen.
    Ich studierte die Bäume eine Zeit lang mit zusammengekniffenen Augen, und dann sah ich etwas, das mir vorher nicht aufgefallen war, etwas, das horizontal durch den Halbkreis verlief. Ein Schatten, das Gespenst einer Vertiefung … die vom Ende der Felswand bis zu der Stelle führte, wo die Biegung des Flusslaufs stromabwärts wieder in die Gerade überging – etwas, das wie Reste eines Pfades oder Kanals aussah. Darauf spielte die Inschrift auf der Rückseite des Fotos an. Dort waren die Bäume anders.
    Ich betrachtete diese Schliere in der Landschaft lange Zeit, während das stechende Gefühl meiner Aufregung immer stärker wurde. Jetzt begriff ich den Grund, weshalb mein Vater dieses Land gekauft hatte. Ich begriff, warum er dafür eine Hypothek auf das Haus aufnahm. Der Grund war ein verrücktes
Hardy Boys
-Abenteuer, das so außerhalb des normalen Lebens lag, dass man es kaum ernst nehmen konnte. Aber das musste es sein. Es leuchtete ein.
    Ich fand in der Truhe ein Kuvert und steckte die Luftaufnahme hinein. Den Rest der Papiere schob ich wieder in den Schnellhefter und klappte die Truhe zu. Ich wollte den Schuppen schon wieder verlassen, als ich es mir anders überlegte, umkehrte und die Truhe wieder öffnete. Nach kurzem Wühlen fand ich, was ich suchte – das Foto meines Vaters vor der Achterbahn in San Diego. Das von Marla trug ich bei mir, seit ich es gefunden hatte. Jetzt holte ich es heraus und verglich die beiden. Es bestand kein Zweifel. Alles deutete darauf hin, dass sie am selben Tag aufgenommen worden waren – die Farbe des Himmels, das Licht, selbst die Posen sahen aus, als hätten sich die beiden Fotografen blitzschnell abgewechselt. Ich steckte beide Aufnahmen in meine Brieftasche und ging hinaus.
    Ich erzählte Stan nicht, was mir die Luftaufnahme gezeigt hatte, sondern fragte ihn stattdessen, ob er mit mir auf Entdeckungsreise gehen wollte. Er sprang sofort auf die Füße, dann wanderten wir beide im Verlauf der nächsten Stunde an der Felswand entlang, die die nördliche Begrenzung der Wiese bildete. Wir entfernten uns vom Fluss und gingen hinter der Hütte zurück in den Wald. Nach etwa einer halben Meile flachte die lotrechte Felswand ab und ging in einen steilen Hang über, der hier und da von Furchen und Simsen unterbrochen wurde. Eine weitere halbe Meile später ließ sich die Wand, obschon immer noch steil, tatsächlich erklimmen; Stan und ich

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