Empty Mile
weitergeben. Wenn mein Vater bis morgen früh nicht wiederaufgetaucht wäre, würde jemand bei uns vorbeischauen. Bevor er auflegte, sagte er mir, ich solle mir keine allzu großen Sorgen zu machen, seiner Erfahrung nach endeten neunzig Prozent dieser Fälle damit, dass die gesuchte Person in irgendeinem Motelzimmer ihren Rausch ausschlief.
Das beruhigte mich nicht. Mein Vater gehörte nicht zu den Leuten, die sich betranken. Doch offenbar befanden wir uns jetzt im Griff des Polizeiapparats mit seiner eisernen Routine. Um wenigstens den Anschein zu erwecken, als würden wir etwas tun, und keineswegs in der Hoffnung, dass wir ihn tatsächlich finden würden, schlug ich Stan vor, dass wir uns an dem einzigen Ort umsehen sollten, der mir einfiel, zu dem mein Vater eine engere Beziehung hatte – die Blockhütte auf dem Grundstück in Empty Mile.
Die Fahrt dorthin, in der Dunkelheit, beschwor die unheilvolle Vorahnung, als müsste sie zwangsläufig in einer häuslichen Tragödie enden. Doch als wir vom Wirtschaftsweg 12 abbogen, machte die Wiese einen friedlichen Eindruck. Unter dem Sternenlicht hatte das hohe Gras einen silbernen Überzug, und als ich vor der Blockhütte parkte und den Motor des Pick-ups ausmachte, senkte sich die Stille über uns wie ein schweres Tuch.
Die Hütte war dunkel. Keine Taschenlampe, keine Laterne, keine brennende Kerze deutete darauf hin, dass mein betrunkener Vater hier wäre, und als wir durch die unverschlossene Tür eintraten, brauchten wir keine Minute, um uns zu vergewissern, dass wirklich nichts dafür sprach, dass mein Vater je hier gewesen war.
Auf der anderen Seite der Wiese brannte Licht in einigen Fenstern von Millicents und Rosies Haus. Auf dem Rückweg schaute ich vorbei und fragte sie, ob sie meinen Vater heute in Empty Mile gesehen hätten. Sie verneinten.
Mein Vater war immer noch nicht zurück, als wir wieder zu Hause eintrafen; Stans Nervosität, die ihn den ganzen Abend geplagt hatte, steigerte sich zu einer körperlichen Erregung, sodass er händeringend im Flut auf und ab ging und mich immer wieder fragte, was passiert sein könnte und was wir unternehmen sollten. Ich brauchte eine halbe Stunde, um ihn so weit zu beruhigen, dass ich ihn zu Bett bringen konnte, und dann lag er starr unter dem Laken und starrte mit großen Augen zur Decke.
Danach blieb ich wach, saß allein in der Küche und versuchte alle halbe Stunde, Marla zu erreichen. Natürlich machte ich mir Sorgen um meinen Vater, doch die Tatsache, dass Marla anscheinend nicht zu Hause war, würzte meine Besorgnis mit einer Prise Eifersucht. Mir fielen nicht viele beruhigende Möglichkeiten ein, weshalb sie um diese Zeit nicht daheim sein könnte. Als sie eine halbe Stunde nach Mitternacht immer noch nicht abnahm, gab ich auf und ging ebenfalls zu Bett.
Stan und ich wachten am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Wir hatten beide nicht gut geschlafen. Wir standen auf und setzten uns in die Küche. Ich machte mir Kaffee, Stan trank eine heiße Schokolade. Er sah übernächtigt und verstört aus und hing zusammengesunken auf seinem Stuhl. Mein Vater war in der Nacht nicht nach Hause gekommen, und wir wussten beide, dass ganz entschieden etwas nicht stimmte.
Gegen sieben Uhr rief ich Marla zu Hause an. Sie nahm nach dem zweiten Läuten ab.
»Wer ist da?«
»Ich bin es.«
»Johnny?«
»Ja, alles in Ordnung? Du hörst dich merkwürdig an.«
»Mir geht es gut. Ich bin gerade aufgewacht, das ist alles. Ich wollte heute anrufen. Du fehlst mir. Ist alles in Ordnung?«
»Mein Vater ist verschwunden.«
»Verschwunden? Was meinst du damit?«
»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Wir wissen nicht, wo er ist.«
»O nein.«
»Hast du ihn nicht gesehen?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Ich dachte mir, vielleicht ist er vorbeigekommen, wegen Pat und so.«
»Nein. Ich habe ihn seit ihrem Tod nicht mehr gesehen.«
»Aber du warst die ganze Nacht zu Hause? Hättest du mitbekommen, wenn er da gewesen wäre? Ich habe bis nach zwölf bei dir angerufen, aber es hat niemand abgenommen.«
»Ich hatte einen anstrengenden Tag. Als ich zu Hause war, habe ich die Telefone abgestellt und mich hingelegt. Tut mir leid, du hättest bestimmt jemand zum Reden gebraucht. Hast du die Polizei angerufen?«
»Ja, gestern Abend. Die schicken jemanden vorbei.«
»Leiten sie Ermittlungen ein?«
»Das würde ich vermuten, oder?«
»O Mann, Johnny, ich will da wirklich nicht mit reingezogen werden.«
»Warum
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