Empty Mile
›Geologische Umwälzungen durch topografische Katastrophen.‹«
Ich muss ihn etwas fassungslos angeblickt haben, denn er lächelte verhalten.
»Randolph Morris, der den Vortrag hält, nimmt das Thema sehr ernst. Er wiederholt ihn alle sechs Monate.«
Ich sah nicht, wie mir ein solcher Vortrag in meiner Sache weiterhelfen sollte, aber es schien eine Möglichkeit, mit Anstand den Rückzug anzutreten, daher versprach ich, dass ich kommen würde. Reynolds sah deutlich glücklicher aus, als er mir die Hand schüttelte.
Es war kurz nach acht, als Marla und ich wieder auf der Straße standen. Eine milchige Phosphoreszenz ließ den Himmel erstrahlen, noch herrschte keine völlige Dunkelheit; die Luft roch nach den warmen Backsteinen, aus denen der gesamte Häuserblock erbaut war.
»Wusstest du, dass mein Vater und Gareth Freunde waren?«
»Gemeinsame Interessen machen sie nicht automatisch zu Freunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ray viel Zeit mit Gareth verschwendet hat.«
»Gareth sagt, dass sie Freunde waren. Er hat mir erzählt, dass sie gemeinsam schürfen gegangen sind. Hat mein Vater davon je etwas gesagt?«
»Nein.«
»Was ist mit den Treffen, bei denen du dabei warst? Hast du sie da zusammen gesehen?«
»Ich war vor einem Jahr ein par Monate dabei. Chris sagte, dass Gareth erst sechs Monate später dazukam.«
»Aber du hast meinen Vater dort gesehen?«
»Ja. Aber da hat er nichts von Empty Mile erzählt.«
Marla kam mit, um die Nacht bei mir zu verbringen. Ich hatte gehofft, ich könnte einmal abschalten, Stan zu Bett bringen, mich dann selbst mit Marla hinlegen und wenigstens ein paar Stunden nicht daran denken, was es mit Empty Mile auf sich hatte, dass wir das Haus verloren oder Plantasaurus den Bach runterging. Aber als wir nach Hause kamen, stand Stan mit entblößtem Oberkörper mitten in der Küche, und seine ganze Brust war mit Faltern übersät. Er hielt die Arme waagerecht ausgestreckt und sah gebannt in den schwarzen Spiegel des Küchenfensters. Als er uns das Zimmer betreten hörte, ließ er mit einem Seufzer der Erleichterung die Arme sinken, als hätte er sehr lange in dieser Haltung ausgeharrt.
Er hatte die Falter mit Klebeband an Brust, Bauch und Armen befestigt. Ich zählte sechzehn. Einer oder zwei bewegten ein Bein oder einen Flügel, wenn ihre Leiber unter dem Band herausragten, doch die meisten regten sich nicht mehr. Um einige der größeren herum sah ich Schlieren von Falterinnereien. Im unvorteilhaften Licht der Küche sah Stans Körper blass aus im Vergleich mit den dunklen Flecken der Insekten. Er wirkte wie benommen.
Marla setzte sich und sah ihn mit offenem Mund an. Ich schälte einen Falter von seiner Brust.
»Die müssen runter.«
»Ich habe mir vorgestellt, dass das Fenster die Barriere ist, der Rand der Welt. Ich habe versucht, die Kraft herüberzuziehen. Ich war mal ein Superhirn.«
»Du bist immer noch ein schlaues Bürschchen.«
»Spürst du etwas, Johnny? Glaubst du, es ist etwas Kraft für Plantasaurus rübergekommen?«
»Komm schon, Stan, mach sie ab!«
Ich griff nach einem weiteren Falter, aber Stan wich zurück. »Nein, Johnny! Ich will sie dranlassen. Vielleicht muss ich schlafen, damit ihre Kraft in mich einströmen kann.«
»Stan, wir haben doch darüber gesprochen. Deine Falter ändern nicht das Geringste für Plantasaurus.«
»Das denkst du, aber du hast nicht immer recht.«
Er stand da, sah mich an und biss die Zähne zusammen, damit seine Lippen nicht bebten. Das Schweigen zwischen uns zog sich in die Länge, während ich überlegte, was ich sagen könnte. Schließlich gab ich auf.
»Du siehst müde aus, du solltest ins Bett gehen.«
Einen Augenblick später nickte er und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Als er an Marla vorbeikam, gab er ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange. Ich folgte ihm nach oben und brachte ihn ins Bett. Er legte sich vorsichtig auf den Rücken und zog die leichte Decke über sich, ohne die Falter abzunehmen. »Hab keine Angst, Johnny«, sagte er und sah zu mir hoch. »Ich werde nicht verrückt. Ich denke nur manchmal nicht wie du, das ist alles.«
Marla lag schon im Bett, als ich in mein Zimmer kam. Ich zog mich aus und legte mich neben sie. Es war eng in dem Einzelbett, doch das störte mich nicht. Ich wollte mich mit dem ganzen Körper an sie drücken, mein Gesicht in ihren Haaren vergraben und so tun, als gäbe es nichts außer ihrem Geruch, ihrer Wärme und der weichen, schützenden Decke
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