Ender 4: Enders Kinder
seit dreitausend Jahren verbunden war. Er wirkte verloren, verwirrt. Einer der Körper fehlte, das war es. Der alte. Die alte, vertraute Form. Er klammerte sich so gerade noch an den beiden anderen fest. Er hatte keine Wurzel und keinen Anker mehr. In keinem von ihnen fühlte er sich zugehörig. Er war ein Fremder in seinem eigenen Fleisch.
Sie näherte sich ihm. Diesmal wußte sie besser als zuvor, was sie tat, wie sie sich beherrschen konnte. Diesmal hielt sie sich zurück, sie nahm nichts, was ihm gehörte. Sie zweifelte sein Besitzrecht nicht an. Kam einfach nur näher.
Und in seiner Unsicherheit war sie ihm vertraut. Aus seinem ältesten Zuhause herausgerissen, war er jetzt zu sehen imstande, daß, ja, er sie kannte, er sie seit langer Zeit gekannt hatte. Er näherte sich ihr noch weiter, hatte keine Angst vor ihr. Ja, näher, näher.
Folge mir.
Sie sprang in den Valentine-Körper. Er folgte ihr. Sie ging hindurch, ohne das darin enthaltene Leben zu berühren, zu kosten; es war an ihm, es zu berühren, an ihm, es zu kosten.
Er fühlte ihre Glieder, die Lippen und die Zunge; er öffnete die Augen und sah; er dachte ihre Gedanken; er hörte ihre Erinnerungen.
Tränen in den Augen, auf den Wangen. Tiefe Trauer im Herzen. Ich kann es nicht ertragen, hier zu sein, dachte er. Ich gehöre nicht hierher. Niemand will mich hier. Sie alle wollen, daß ich von hier weggehe und nicht mehr wiederkomme.
Die Trauer zerrte an ihm, stieß ihn weg. Es war ein unerträglicher Ort für ihn.
Das Aiúa, das einmal Jane gewesen war, griff jetzt tastend hinaus und berührte einen einzelnen Punkt, eine einzelne Zelle.
Er wurde unruhig, aber nur für einen Augenblick. Das hier gehört mir nicht, dachte er.
Ich gehöre nicht hierher. Es gehört dir. Du kannst es haben.
Sie führte ihn hierhin und dorthin im Innern dieses Körpers, stellte ständig Kontakt her, übernahm die Herrschaft über ihn; aber statt gegen sie zu kämpfen, überließ er ihr diesmal die Kontrolle, immer und immer wieder. Ich bin hier nicht erwünscht. Nimm ihn. Hab Freude damit. Er gehört dir. Es war nie mein eigen.
Sie fühlte, wie das Fleisch sie selbst wurde, mehr und mehr davon, als die Zellen zu Hunderten, zu Tausenden ihre Ergebenheit von dem alten Meister, der nicht länger dort sein wollte, auf die neue Herrin verlagerten, die sie verehrte. Sie sagte nicht zu ihnen: Ihr seid mein, so wie sie es versucht hatte, als sie früher schon einmal hierher gekommen war. Statt dessen lautete ihr Ruf jetzt: Ich bin euer; und dann schließlich: Ihr seid ich .
Sie war erstaunt von der Vollständigkeit, der Ganzheit, dieses Körpers. Jetzt begriff sie, daß sie bis zu diesem Augenblick niemals ein Selbst gewesen war. Über was sie während all dieser Jahrhunderte verfügt hatte, war eine Apparatur gewesen, kein Selbst. Sie war an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen gewesen und hatte auf ein Leben gewartet. Doch nun, als sie die Arme wie Ärmel anprobierte, stellte sie fest, daß, ja, ihre Arme gerade so lang waren; ja, diese Zunge, diese Lippen bewegen sich genau da, wo meine Zunge und meine Lippen sich bewegen müssen.
Und dann, in ihr Bewußtsein einsickernd, ihre Aufmerksamkeit beanspruchend – die früher zwischen zehntausend Gedanken gleichzeitig aufgeteilt gewesen war – kamen Erinnerungen, die sie nie zuvor gekannt hatte. Erinnerungen an das Sprechen mit Lippen und Atem. Erinnerungen an das Sehen mit Augen, das Hören mit Ohren. Erinnerungen daran, zu gehen, zu laufen.
Und dann die Erinnerungen an Personen. Daran, wie sie in jenem ersten Sternenschiff stand, ihr erstes Bild erblickte – an Andrew Wiggin, den Ausdruck auf seinem Gesicht, die Verwunderung, als er sie sah, als er hin und her schaute zwischen ihr und –
Und Peter.
Ender.
Peter.
Sie hatte es ganz vergessen. Sie war so in dieses neu gefundene Selbst vertieft gewesen, daß sie das verlorene Aiúa vergessen hatte, das es ihr geschenkt hatte. Wo war er?
Verloren, verloren. Nicht in dem anderen, nicht sonstwo, wie hatte sie ihn nur verlieren können? Wie viele Sekunden, Minuten, Stunden war er schon fort? Wo war er?
Während sie sich blitzschnell von dem Körper entfernte, von dem Ich, das sich selbst Val nannte, sondierte sie, suchte sie, vermochte aber nicht zu finden.
Er ist tot. Ich habe ihn verloren. Er schenkte mir dieses Leben, und dann hatte er keine Möglichkeit, sich festzuhalten, trotzdem vergaß ich ihn, und jetzt ist er fort.
Aber dann erinnerte sie sich daran,
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