Ender 4: Enders Kinder
schuldig fühlt, weil er seinen Posten verlassen hat.
Trotz seiner Müdigkeit schlief Miro nicht lange. Im Grunde genommen war der Himmel draußen immer noch düster, weil vor der Dämmerung nur wenig Sonnenlicht über den Horizont sickerte, als er erwachte und sich, wie es seine Gewohnheit war, sofort aus dem Bett erhob und schwankend dastand, während der letzte Rest Schlaf aus seinem Körper wich. Er zog sich etwas über und ging hinaus auf den Flur, um die Toilette aufzusuchen und seine Blase zu entleeren. Als er wieder heraustrat, hörte er Stimmen aus der Küche.
Entweder war die Unterhaltung von letzter Nacht immer noch im Gange, oder irgendwelche anderen zwanghaften Frühaufsteher hatten auf das morgendliche Alleinsein verzichtet und plauderten munter vor sich hin, als sei die Morgendämmerung nicht die dunkle Stunde der Verzweiflung.
Er blieb vor seiner eigenen offenen Tür stehen, bereit, hineinzugehen und diese ernsten Stimmen auszusperren, als Miro sich bewußt wurde, daß eine von ihnen der jungen Val gehörte. Dann wurde ihm klar, daß die andere die der alten Valentine war. Sofort machte er kehrt und begab sich in Richtung Küche. Im Türdurchgang zögerte er erneut.
Tatsächlich – die beiden Valentines saßen sich am Tisch gegenüber, aber ohne sich anzusehen. Statt dessen starrten sie zum Fenster hinaus, während sie einen der Früchte-und-Gemüse-Absude der alten Valentine schlürften.
»Möchtest du auch einen, Miro?« fragte die alte Valentine, ohne aufzublicken.
»Nicht einmal auf meinem Sterbebett«, sagte Miro. »Ich wollte euch nicht stören.«
»Gut«, sagte die alte Valentine.
Die junge Val sagte auch weiterhin nichts.
Miro betrat die Küche, ging zum Ausguß und zapfte sich ein Glas Wasser, das er in einem langen Zug trank.
»Ich sagte dir doch, daß das im Badezimmer Miro sei«, sagte die alte Valentine. »Niemand sonst schleust jeden Tag so viel Wasser durch wie dieser gute Junge.«
Miro gluckste leise, aber die junge Val hörte er nicht lachen.
»Ich störe eure Unterhaltung tatsächlich «, sagte er. »Ich gehe wohl besser.«
»Bleib«, sagte die alte Valentine.
»Bitte«, sagte die junge Val.
»Bitte was?« fragte Miro. Er wandte sich ihr zu und grinste.
Sie schob mit dem Fuß einen Stuhl in seine Richtung. »Setz dich«, sagte sie. »Die Lady und ich sind gerade dabei, die Sache mit unserer Zwillingsexistenz endgültig zu klären.«
»Wir haben entschieden«, sagte die alte Valentine, »daß es meine Verantwortung ist, als erste zu sterben.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte die junge Val, »wir haben entschieden, daß Gepetto Pinocchio nicht erschaffen hat, weil er einen richtigen Jungen wollte. Was er von Anfang an eigentlich haben wollte, war eine Marionette. Diese Geschichte mit dem richtigen Jungen war bloß Gepettos Faulheit. Die Marionette sollte nach wie vor tanzen – nur wollte er sich nicht die ganze Mühe damit machen, an den Fäden zu ziehen.«
»Dabei bist du Pinocchio«, sagte Miro. »Und Ender …«
»Mein Bruder hat nicht versucht, dich zu erschaffen«, sagte die alte Valentine. »Und er will dich auch nicht kontrollieren.«
»Ich weiß«, flüsterte die junge Val. Und plötzlich standen ihr Tränen in den Augen.
Miro streckte eine Hand aus, um sie auf dem Tisch über ihre zu legen, aber sofort zog sie ihre weg. Nein, sie wich seiner Berührung nicht aus, sie hob die Hand nur, um sich die störenden Tränen aus den Augen zu wischen.
»Er würde die Fäden durchschneiden, wenn er könnte, das weißt du«, sagte die junge Val. »So, wie Miro die Fäden zu seinem alten, zerstörten Körper zerschnitten hat.«
Miro erinnerte sich sehr genau daran. Im einen Augenblick hatte er noch im Sternenschiff gesessen und dieses perfekte Abbild seiner selbst angesehen, stark und jung und gesund; im nächsten Augenblick war er jenes Abbild, war immer jenes Abbild gewesen, und was er ansah, war jene verkrüppelte, zerstörte, gehirngeschädigte Version seiner selbst. Und während er noch hinschaute, zerfiel dieser ungeliebte, ungewollte Körper zu Staub und verschwand.
»Ich glaube nicht, daß er dich haßt«, sagte Miro, »so, wie ich mein altes Ich gehaßt habe.«
»Er braucht mich nicht zu hassen. Außerdem war es nicht Haß, was deinen alten Körper umgebracht hat.« Die junge Val mied seinen Blick. Während all ihren gemeinsam verbrachten Stunden, als sie fremde Welten erkundet hatten, hatte sie nie über irgend etwas so Persönliches gesprochen. Sie
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