Enders - Porträt eines Marshals: Die Bonus-Story (German Edition)
die Waffe um zwei Finger.
»Eine Waffe ohne Munition ist schlimmer als gar keine Waffe.«
* * *
Ich verbringe die nächsten beiden Tage von früh bis spät mit Ermittlungen. Für die paar Stunden Schlaf, die ich mir gönne, ziehe ich mich auf den harten Boden des Büros neben Lonnie zurück. Sie ist süß. Einige von uns Hausbesetzern schenken ihr zum Geburtstag eine Supertruffle, auf die wir eine brennende Kerze geklebt haben. Sie mag mich, ich weiß, aber sie hat keine Ahnung, dass ich fast siebenmal älter bin als sie. Irgendwann im Lauf des Abends will sie mich küssen, doch ich schaffe es nicht, eine Sechzehnjährige auszunutzen, die nicht weiß, dass sie in Wahrheit einen Ender küsst. Obwohl ich nicht abgeneigt wäre …
Ich fürchte, dass ich ihre Gefühle verletzt habe.
Sie hat ihr Versprechen gehalten und ist nicht zu Prime Destinations gegangen. Aber für mich wird es Zeit, dorthin zurückzukehren. Meine Frist im Körper des Spenders ist um. Leider bin ich meinem Ziel, den Mörder zu finden, nicht näher gekommen. Ich habe mit vielen Starters gesprochen, manche von ihnen Prime-Spender, andere ganz normale Kids, doch ich bin auf keine brauchbare Fährte gestoßen. Alle Hinweise, die sich vielversprechend anließen – etwa ein Starter, der plötzlich über eine Menge Bargeld verfügte –, verliefen letztlich im Sand. Aber kurz bevor ich mich von Lonnie verabschiede, fällt ihr noch etwas ein.
»Vor ein paar Tagen hörte ich zufällig, wie sich Indie mit ein paar anderen Mädchen unterhielt«, erzählt sie. »Sie sprach von Erinnerungen. Bösen Erinnerungen. Und die anderen schienen zu verstehen, was sie meinte. Ich glaube, die waren alle Spenderinnen der Body Bank.«
Ehe ich in das Unternehmen zurückkehre, das die Straßen-Kids Body Bank nennen, suche ich eine öffentliche Toilette auf und ziehe die schicken Sachen an, mit denen ich bei Prime eingekleidet wurde. Die Dame am Empfang will mich zum Ruheraum geleiten, doch ich bestehe darauf, mit dem CEO zu sprechen, den die Angestellten unter sich offenbar ein wenig respektlos als den Old Man bezeichnen.
Da ich unsicher bin, wie ich ihn nennen soll, vermeide ich eine Anrede. Heute ist auf seiner Maske ein berühmter Immobilien-Mogul abgebildet.
»Alles nach Plan gelaufen?«, fragt er mit dieser seltsam verzerrten Stimme.
Ich hole meine Dienstmarke hervor. Sein Körper spannt sich. Er kommt mit entschlossenen Schritten auf mich zu, packt die Marke und schleudert sie quer durch den Raum. »Soso. Das Auge des Gesetzes. Hat unsere Dienste unter Vorspiegelung falscher Tatsachen missbraucht.«
Ich will die Marke aufheben, aber er steht mir im Weg. »Ich suche einen Mörder. Eines seiner Opfer war bei Ihnen als Körper-Spenderin unter Vertrag.«
»Bei Minderjährigen ohne Angehörige kommt es leider häufig zu Todesfällen, das müssten Sie am besten wissen.« Er schüttelt den Kopf. Blaue Lichtstreifen folgen seiner Bewegung. »Das Leben auf der Straße birgt nun mal Gefahren.«
»Gefahren durch Bandenkämpfe und Krankheiten, ja. Aber das hier ist etwas anderes. Jemand bringt junge Mädchen kaltblütig um – vermutlich wegen des Geldes, das sie hier verdienen.«
»Wenn Sie das glauben, beweisen Sie es.«
»Ich brauche mehr Zeit für meine verdeckten Ermittlungen.« Ein Frösteln überfällt mich. Es lässt sich nicht unterdrücken. Im Raum ist es eiskalt.
»Wie viel?«
Eine Woche. Einen Monat. Aber ich weiß, dass er damit niemals einverstanden wäre. »Drei weitere Tage.«
Der Old Man schüttelt den Kopf. »Ich hätte nie und nimmer einen Vertrag mit einem Marshal abgeschlossen.« Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich. »Dieser Körper ist mein Eigentum. Sie setzen ihn einem verdammt hohen Risiko aus.«
»Mir ist mehr als Ihnen daran gelegen, dass diesem Jungen nichts zustößt.« Ich weise mit einer vagen Geste auf meinen neuen Körper. »Da draußen sterben Starters, und wen außer mir kümmert das? Glauben Sie, dass sich andere Marshals Zeit für verwaiste Minderjährige nehmen? Die meisten Enders würden diese Kids am liebsten wie Ungeziefer ausrotten.«
Schweigen. Von seiner Maske geht ein schwaches Summen aus, hin und wieder unterbrochen von leisen Knistergeräuschen, die an eine elektronische Insektenfalle erinnern.
Das Schweigen ist brutal.
»Diese Ermittlungen laufen nicht offiziell, oder?«, fragt der Old Man schließlich.
»Nein.«
Er denkt nach. Die Zeit dehnt sich endlos.
»Einverstanden«, sagt er schließlich. »Aber Sie
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