Enders Schatten
Selbststudium schloss er alle weiterführenden Kurse ab, die man am eigenen Pult absolvieren konnte, und erhielt sämtliche Zertifikate. Er studierte Militärgeschichte, Philosophie, Strategie. Er las Werke über Ethik, Religion, Biologie. Er verfolgte weiter die Fortschritte jedes einzelnen Schülers in der Kampfschule, von den neu eingetroffenen Frischlingen bis zu denen, die kurz vor dem Abschluss standen. Wenn er ihnen im Flur begegnete, wusste er mehr über sie als sie selbst. Er wusste, wo sie herkamen. Er wusste, wie sehr ihnen ihre Familien fehlten und wie wichtig ihr Heimatland oder ihre ethnische oder religiöse Gruppe für sie waren. Er wusste, wie wertvoll sie für eine nationalistische oder idealistische Widerstandsbewegung sein würden.
Und er las alles, was Wiggin las, sah sich alles an, was Wiggin sich ansah. Hörte, was die anderen Kinder über Wiggin sagten. Behielt Wiggins Platz auf der Rangliste im Auge. Lernte weitere von Wiggins Freunden kennen, hörte sie über ihn reden. Bean hörte sich alles an, was sie über Wiggin sagten, und versuchte, es zu einer zusammenhängenden Philosophie zusammenzusetzen, einer Weltanschauung, einer Haltung, einem Plan.
Und er fand etwas Interessantes heraus. Trotz Wiggins Altruismus, trotz seines Willens, sich zu opfern, berichtete keiner seiner Freunde je, dass Wiggin einmal zu ihm gekommen wäre und über seine Probleme gesprochen hätte. Alle gingen zu ihm, aber zu wem ging er selbst? Er hatte auch nicht mehr echte Freunde als Bean. Wiggin behielt alles für sich, genau wie Bean.
Bald schon wurde Bean aus Klassen, deren Lernpensum er bereits bewältigt hatte, in höhere versetzt und in Gruppen von älteren Schülern gesteckt, die ihn zunächst verärgert, aber dann schlicht ehrfürchtig betrachteten, wenn er an ihnen vorbeizog und abermals versetzt wurde, bevor sie noch halb fertig waren. Hatte Wiggin die Klassen ebenso schnell durchlaufen? Beinahe, aber nicht ganz so schnell. War Bean besser, oder rückte nur der Termin näher?
Die Dringlichkeit in den Einschätzungen der Lehrer nahm nämlich zu. Die gewöhnlichen Schüler â als wäre irgendein Kind hier gewöhnlich gewesen! â erhielten immer weniger Aufmerksamkeit. Man ignorierte sie nicht unbedingt, aber die Besten waren bereits identifiziert und wurden ausgesondert.
Die scheinbar Besten. Bean begann zu begreifen, dass die Einschätzungen der Lehrer oft dadurch beeinflusst wurden, welche Schüler sie am liebsten hatten. Die Lehrer gaben sich leidenschaftslos und unparteiisch, aber in Wahrheit wurden sie ebenso von den charismatischeren Kindern angezogen wie die anderen Schüler. Wenn ein Kind liebenswert war, gaben sie ihm bessere Empfehlungen als Anführer, selbst wenn der Betreffende nur aalglatt und besonders sportlich war und es nötig hatte, sich mit einer Mannschaft zu umgeben. Häufig hoben sie dabei genau jene Schüler hervor, die die unfähigsten Kommandanten sein würden, und ignorierten andere, die nach Beans Ansicht wirkliches Potenzial zeigten.
Es war frustrierend zu beobachten, wie die Lehrer so offensichtliche Fehler machten. Hier hatten sie Wiggin genau vor der Nase â Wiggin, der das einzig Wahre war â und missdeuteten immer noch alle anderen. Sie gerieten total aus dem Häuschen wegen energischer, selbstsicherer, ehrgeiziger Kids, obwohl sie eigentlich keine besonders gute Arbeit leisteten.
War es nicht das Ziel dieser Schule, die bestmöglichen Kommandanten zu finden? Die Tests auf der Erde funktionierten gut â es gab keine echten Idioten unter den Schülern. Aber das System hatte einen wichtigen Faktor übersehen: Wie wurden die Lehrer ausgewählt?
Alle waren Berufssoldaten. Erfahrene Offiziere, die etwas konnten. Aber beim Militär kommt man nicht nur wegen seiner Fähigkeiten in die höheren Ränge. Man muss auch die Aufmerksamkeit übergeordneter Offiziere erlangen. Man muss beliebt sein. Man muss ins System passen. Man muss so aussehen, wie die anderen Offiziere glauben, dass Offiziere auszusehen hätten. Man muss auf eine Art denken, mit der sie sich anfreunden können.
Das Ergebnis war eine Kommandostruktur, in der Männer überwogen, die in Uniform gut aussahen und sich wacker genug schlugen, um nicht peinlich zu wirken, während die wahrhaft Guten in aller Stille die eigentliche Arbeit verrichteten, ihre Vorgesetzten aus der
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