Enders
steinernen Mienen verhießen nichts Gutes.
Die Frau beugte sich über mich und drückte mich mit aller Kraft gegen den kalten Untersuchungstisch.
»Was haben Sie vor?«, schrie ich und wand mich unter ihrem harten Griff.
Der Doktor stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte sehen, dass er eine Spritze aufzog. Er näherte sich dem Tisch mit einer langen Injektionsnadel. Die Frau grub ihre knochigen Finger in meine Haut, als er mir das monströse Ding in den Arm rammte.
Ich träumte, dass ich wieder in dem hübschen gutbürgerlichen Haus im Ranchstil lebte, in dem mein Bruder und ich eine behütete Kindheit verbracht hatten. Es war Samstagnachmittag, und ich saß mit Tyler bei einem kindischen Kartenspiel auf dem Boden. Das Ganze ergab keinen Sinn, weil er so alt war wie jetzt. Dann kam mein Vater ins Wohnzimmer.
»Daddy?«, fragte ich überrascht.
»Was gibt es, Cal, mein Mädchen?«
Aus irgendeinem Grund trug er einen schwarzen Anzug. Kurz darauf erschien meine Mutter in einem fließenden Abendkleid und legte ihm einen Arm um die Taille.
»Mom?«, sagte ich.
Sie hielt den Kopf schräg. »Ja, mein Liebes?«
»Ich dachte, ihr hättet uns beide verlassen.«
»Nein«, entgegnete sie. »Wir waren immer hier.«
Ich erwachte auf einer von allen Seiten gepolsterten Krankenhausliege. Aber anstelle der Gitterstäbe umgaben mich Plexiglaswände, die an einen Brutkasten erinnerten.
Über mir funkelten Sterne. Projektionen? Eine Illusion, um mich zu beruhigen? Oder zu verwirren?
»Sie ist wach«, flüsterte jemand.
Ich drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah jenseits des kleinen Krankenzimmers eine uniformierte Bewacherin. Ihr Gesicht war halb von der Tür verdeckt.
Eine Ender in einem engen, hellen Overall betrat den Raum. Sie hielt ein kleines Gerät in den Händen, das durch ein Kabel mit einem Messfühler verbunden war. Damit berührte sie meine Stirn, mein Handgelenk und mein Herz. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Handgelenke mit Gurten am Bett fixiert waren.
Sie warf einen Blick auf ihr Gerät und nickte zufrieden. Dann verließ sie den Raum, ohne mich ein einziges Mal anzusehen.
Ich drehte meine Hände hin und her, um zu sehen, ob ich mich von den Gurten befreien konnte. Unmöglich. Panik drang wie Wasser unter einer Tür herein und breitete sich aus. Ich zerrte heftiger, scheuerte mir aber nur die Gelenke wund.
Jemand öffnete die Tür. Schon wieder ein Besucher. Ich hatte genug von dem geheimnisvollen Getue.
Diesmal war es Emma. Die Bewacherin blieb im Gang, als Emma eintrat und hinter sich die Tür schloss.
Sie trug einen Einkaufsbeutel.
»Hi, Callie.« Sie strahlte mich an.
»Was willst du?« Ich traute ihr nicht, aber es war ja nicht so, dass ich einfach aufstehen und gehen konnte.
»Ich habe dir einen Smoothie mitgebracht. Dachte, der würde dir guttun.« Sie holte ihn aus ihrem Beutel. »Erbeer-Banane.«
»Danke, kein Bedarf.« Der Durst brannte in meiner Kehle.
»Ich glaube, dass du ihn willst.«
»Ich kann den Becher nicht halten, wie du siehst. Wenn du mir die Gurte abnimmst …«
»Ich halte ihn für dich.«
Sie trat ans Bett und schob mir den Strohhalm zwischen die Lippen. Ich wollte ablehnen, aber ich hatte solchen Durst. Und Hunger. Der Fruchtsaft rann kühl und süß durch meine Kehle.
»Langsam«, warnte sie. »Nicht zu viel auf einmal, sonst kommt das Zeug wieder hoch.«
Emma hatte, aus der Nähe betrachtet, starke Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter. So musste Helena in ihrer Jugend ausgesehen haben. Edle Züge. Hohe Wangenknochen. Aber natürlich hatte sich Emma bei Prime die Nase verkleinern lassen.
Sie zog den Smoothie-Becher zurück.
»Warum hast du das getan?«
»Was?«
»Dich als ihr Lockvogel hergegeben …«
Sie starrte auf den Becher herunter und spielte nervös mit dem Strohhalm. »Mir blieb keine andere Wahl«, sagte sie leise. »Sie haben mich erpresst.«
»Womit?« Ich senkte meine Stimme ebenfalls.
»Sie drohten, dass sie meiner Großmutter etwas antun würden, wenn ich ihre Anweisungen nicht befolgte«, flüsterte sie.
»Deiner Großmutter? Helena?«
Emmas schmerzverzerrtes Gesicht verriet, dass ihr der Gedanke unerträglich war.
Sie zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Als sie die Beine übereinanderschlug, bemerkte ich an ihrem Knöchel ein modisches Goldkettchen mit ihrem Namen: EMMA .
»Das ist hübsch«, sagte ich und deutete auf den Schmuck.
»Ein Geschenk von ihr. Meiner Großmutter.«
Ich atmete tief ein.
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