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Endithors Tochter

Titel: Endithors Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David C. Smith & Richard L. Tierney
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mahnte sie sich, sich um nichts zu kümmern, was sie nichts anging – wie beispielsweise Sendes heute Nacht zum Hain nachzuschleichen, um ihn vor Areels Hexerei zu beschützen. Sendes mochte sich zwar einbilden, Areel zu kennen, aber Sonja kannte Zauberei – und sie hatte Areels zu kosten bekommen. Nie in der langen Zeit, die sie schon durch die Lande zog, hatte sie sich an das Gefühl gewöhnt, das der Zauberei anhaftet, an das Böse, das sie mit sich bringt. Und weil sie dieses Gefühl kannte, war sie wachsam und konnte sich darauf einstellen, während andere, die nicht damit vertraut waren, offenen Auges in ihr Verderben rannten. Sie dachte an das Fest, das Nalor gegeben hatte, und an Sendes’ Gleichgültigkeit, als sie ihn zu überzeugen versucht hatte, dass Kus ein echter Hexer und kein Bühnenzauberer war. Das war ein typisches Beispiel!
    Vor ihrem Mietshaus kaufte sie Käse und Obst von einem Straßenhändler. Wie erwartet, war Chost noch nicht wach. Wie sehr er diesen Schlaf gebraucht haben musste! Der arme Junge – halbverhungert und hauptsächlich von der Kraft der Furcht bewegt, die ständig Teil des unsicheren Lebens auf der Straße war. In Dschungeln und finsteren Wäldern war das Leben sicherer, als sich schutzlos in der Zivilisation behaupten zu wollen. Sonja, die viele als Barbarin ansahen, wusste es aus eigener Erfahrung.
    Sie legte Käse und Früchte auf den Tisch und setzte sich auf die Bettkante. Chost rollte sich herum, wachte jedoch nicht auf. Im trüben Licht des regnerischen Tages betrachtete Sonja den Jungen. Als sie ihn zum ersten Mal sah, hatte sie ihn für etwa zwölf gehalten, aber er war älter, nicht wirklich ein Kind mehr, aber auch noch kein Mann – vielleicht von Leras Alter. Ja, jung an Jahren, doch alt an Erfahrung … Sonja grübelte darüber nach. Als sie so alt wie Chost war, hatte sie von der Welt noch so gut wie nichts gewusst. Erst später, trotzdem viel zu früh, hatte sie auf schreckliche, schmerzhafte Weise gelernt, welche Hölle die Erde ist, wie unberechenbar sie zwischen Freude und Hochstimmung einerseits und Qualen und Grauen andererseits hin und her schwankte. Es war ein Wunder, das ihr unerklärlich blieb, wie die gütigen, warmherzigen Menschen, denen sie manchmal begegnete, in einer solchen Welt überleben konnten – oder, wie solche Ruchlosigkeit, solch sinnloses, grausames Blutvergießen, mit derengleichen sie weit häufiger zu tun gehabt hatte, sich immer wieder durchzusetzen vermochten, wenn es die guten Götter, an die die Frommen glaubten, tatsächlich gab. Die ganze Welt schaukelte, schwankte, schlingerte unsicher.
    »Es ist ein Netz«, hatte einmal jemand zu ihr gesagt. »Ein Netz, in dem alles vermischt ist. Nur die Götter kennen sich aus, wir jedoch tappen auf gut Glück hindurch.«
    Hindurchtappen – das war eine ziemlich gute Beschreibung für sie. Die gewaltige innere Freude, die sie manchmal empfand, wenn sie allein durch einen Wald ritt oder wenn sie in angenehmer Gesellschaft irgendwo am Feuer saß, schien alles Maß zu übersteigen, das sie als Geist in einem. zerbrechlichen Menschenkörper empfinden dürfte. Dann gab es auch Zeiten, wenn das Leben ihr so mühsam, so niederdrückend, so sinnlos erschien, so unerträglich mit seinem schwarzen Humor, dass ihr der Selbstmordkult der Mariik fast vernünftig erschien.
    Was Sonja jedoch mehr als alles andere erstaunte, war der unerschütterliche Lebenswille der meisten Menschen, nicht nur der Krieger, die mit ihrem Ruhm und ihrer Stärke prangten, noch der reichen Kaufleute, der Edlen, der Häuptlinge und der Mächtigen ganz an der Spitze, sondern vor allem der der kleinen Leute ohne Titel, Macht oder Geld. Für die meisten war die Geschichte eine Aufzählung der Namen von Königen, Schlachten, Patriarchen oder Glaubensbekenntnissen. Für die kleinen Leute dagegen, für die einfachen Männer und Frauen, war die Geschichte die Erinnerung an Vorfahren, geleistete Arbeit, stille Andacht, Bier und fröhliches Lachen, Kummer und Tränen, Geburten und Todesfälle und Träume. Sie erstrebten nicht Welterschütterndes, doch was sie erreichten, bedeutete ihnen viel, auch wenn kein Aufhebens davon gemacht wurde, keine Herolde es verkündeten, es nicht in großen Lettern angeschlagen oder es im Tempel verkündet wurde. Die einfachen Leute – ob auf dem Land oder in der Stadt – lebten ihr einfaches Leben, beteten zu ihren Göttern, teilten ihr Brot, ihren Käse und ihr Wasser mit anderen, waren

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