Endlich wieder leben
gezahlt.
»Die an sich zulässige oder jedenfalls rechtlich erreichbare Eheschließung«, konstatierte der Oberregierungsrat Hans Ohle im Bundesarbeitsblatt 1957 voller Bedauern, wird »aus wirtschaftlichen Gründen unterlassen, weil nach gesetzlichen Vorschriften öffentlichrechtliche Renten-, Pensions- oder Unterstützungsleistungen, die meistens den Frauen zustehen, mit der Eheschließung wegfallen oder im Rahmen einer Bedürftigkeitsprüfung von dem jeweiligen Einkommen des anderen Ehegatten abhängig sind«.
Dass es »wegen der Rente« ist, dass seine Mutter keinen der Männer heiratete, mit denen sie zeitweilig zusammenlebte, war Heinrich in Haus ohne Hüter spätestens dann bewusst, als er die Haushaltskasse zu führen begann und die Einkäufe für die ganze Familie tätigte. Allein von der Rente und dem Lohn der Mutter hätte die vierköpfige Familie kaum leben können. Ohne Onkel Karl hätte es keine Bonbons und kein Spielzeug für die kleine Schwester gegeben. Ohne Onkel Gert hätten sie nicht zusätzlich Margarine, Brot und Fleisch auf dem Tisch gehabt und »einige Male das, was damals so kostbar, so selten gewesen war, etwas kleines Weißes, wunderbar Schmeckendes: ein Ei«. Ohne Onkel Gert hätte die Mutter auch keine Armbanduhr getragen.
Der Preis für diese Onkelehen war allerdings hoch. Die Milchhändlerin und der Sparkassenbote im Haus zerrissen sich hinter dem Rücken der Mutter das Maul über sie. In der Schule spürte Heinrich, dass die »Schande« der Mutter auf ihn abfärbte. Am besten unter den Halbwaisen hatten es jene, deren Mütter nicht wieder geheiratet hatten und auch mit keinem Onkel zusammenlebten, sie galten als untadelig keusch und treu. Mit weniger Nachsicht auskommen mussten Jungen, deren Mütter mit Onkeln zusammenlebten, ohne mit ihnen Kinder zu haben. Am schlimmsten aber war es für Jungen wie Heinrich, deren Mütter Kinder von den Onkels hatten und sich, wenn sie die Männer wechselten wie Heinrichs Mutter, »von einer Sünde in die andere« begaben.
Unter dem Makel der unehelichen Geburt und der »wilden Ehe« seiner Mutter hat auch der junge Klaus Wowereit gelitten. »Meine Mutter«, schreibt er, »trug zeitlebens den Namen ihres ersten Mannes: Grüner. Das Gesetz forderte jedoch, dass ich den Mädchennamen meiner Mutter annehmen musste: Wowereit. So war ich von klein auf immer wieder mit der peinlichen Situation konfrontiert, erklären zu müssen, warum ich Wowereit, meine Mutter jedoch Grüner hieß.« 33
Die Mutter des späteren SPD-Politikers und Berliner Regierenden Bürgermeisters hatte fünf Kinder von drei Männern und lebte schließlich mit einem vierten Mann zusammen. Die ersten drei Kinder, geboren zwischen 1935 und 1942, stammten von ihrem Ehemann Herbert, der wahrscheinlich in Rumänien fiel. Das vierte Kind, geboren 1947, stammte von einem zurückgekehrten Soldaten, der nach kurzer Zeit an den Spätfolgen des Krieges starb. Der Vater des 1953 geborenen Klaus Wowereit war fünfzehn Jahre jünger als die Mutter; die ungleiche Beziehung ging nach kurzer Zeit auseinander. Wowereits »männliche Bezugsperson« wurde daraufhin Gustav, »der Lebensgefährte meiner Mutter, den sie als ihren ›Verlobten‹ vorstellte, so wie es damals in Beziehungen üblich war, die nicht dem bürgerlichen Ehe-Diktat entsprachen. Hertha war sehr pragmatisch. Eine neuerliche Heirat hätte ihre kleine Kriegerwitwenrente gefährdet. Dieses Risiko wollte sie, bei aller Liebe, nicht eingehen.«
Der »sittliche Notstand« der Betroffenen ließ selbst die Kirchen nicht ungerührt. In Österreich verschickte die katholische Bischofskonferenz 1953 einen Rundbrief, in dem sie erklärte, dass Priester den jeweiligen Einzelfall zu prüfen hätten und ein Sakrament der Ehe gegebenenfalls auch Paaren nicht verweigern sollten, die nicht standesamtlich getraut seien: Österreich erlaubt Nur-Kirchen-Ehen, wenn sie mit Einwilligung des Bischofs geschlossen werden.
In Deutschland hingegen kam es zu einer Anklage wegen Missachtung des gesetzlichen Verbots einer religiösen Voraustrauung, als bekannt wurde, dass Pfarrer Xaver Neun die Kriegerwitwe Anna Weizhofer und den Milchfahrer Ludwig Stallhofer am 27. März 1954 heimlich getraut hatte. Die Fast-Eheleute wurden des Konkubinats bezichtigt, Pfarrer Neun und sein ebenfalls eingeweihter Generalvikar wegen Verstoßes gegen Paragraph 67 des Personenstandsgesetzes angeklagt. Wochenlang beschäftigte der Fall die Presse. »Unsoziale staatliche Gesetze«,
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