Endlich wieder leben
befand die Süddeutsche Zeitung voller Verständnis für das Vorgehen des Priesters, »dürfen Gläubige nicht in Gewissensnot treiben und ihnen die Sakramente vorenthalten.« Der von der Verteidigung aufgebotene Theologieprofessor Klaus Mörsdorf hoffte sogar, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche neu aufrollen zu können: »Die Kirche verweigert dem Staat die Kompetenz, über die Ehen der Christen zu entscheiden.«
Bild 6
« Blauer Himmel über der Ruhr« lautete der Slogan, mit dem der spätere Bundeskanzler Willy Brandt 1961 in den Wahlkampf zog. Doch obwohl oft dunkle Rußwolken über der Ruhr hingen, kümmerten sich in jenen Jahren weder Eltern noch Kinder um die Luftverschmutzung. Viel wichtiger war, ob die Kinder ihren Vater verloren hatten oder mit einem »Onkel« einen Ausflug unternehmen mussten, mit dem die Mutter nicht verheiratet war.
Die öffentliche Meinung war allerdings gespalten. Auf die Frage des Allensbacher Instituts für Demoskopie, ob die Befragten einen Mann und eine Frau als Ehepaar ansehen würden, die sich kirchlich hätten trauen lassen, ohne vorher zum Standesamt gegangen zu sein, erklärten sechzig Prozent der Männer und Frauen, sie würden die beiden nicht als Ehepaar ansehen, 33 Prozent hielten die beiden für ein Ehepaar (34 Prozent der Männer, 33 Prozent der Frauen), sieben Prozent hatten keine Meinung. 34 Das Gericht beharrte erwartungsgemäß auf der übergeordneten Kompetenz des Staates, zeigte sich durch milde Urteile aber einfühlsam. Die religiöse Voraustrauung wurde als Ordnungswidrigkeit mit einer Verwarnung ohne Bußgeld bestraft. 35
Auch die evangelische Kirche tat sich schwer mit der Onkelehe. »Um einer Pfarrwitwe den seelischen Konflikt zu ersparen, wenn sie sich wieder verheiraten möchte und ihr die wirtschaftlichen Verhältnisse den Verzicht auf die Witwenpension nicht gestatten«, gestand die Landessynode in Schleswig-Holstein Pfarrwitwen bei Wiederheirat immerhin eine Abfindung in Höhe einer Jahrespension zu. Außerdem lebten ihre Rentenansprüche aus der ersten Ehe nach dem Tod des zweiten Mannes wieder auf und wurden sogar durch die neu erworbenen Ansprüche ergänzt. Aus moralischen Gründen konnte sich die Kirche allerdings nicht dazu durchringen, die Rente auch nach einer Scheidung wieder zu zahlen.
Schätzungsweise lebte in den fünfziger Jahren jede sechste Kriegerwitwe ohne Trauschein mit einem Mann zusammen. Diese Größenordnung wurde durch die Umfrage in einer Volksschule in Schleswig-Holstein bestätigt, in der zwanzig Prozent der Schüler aus häuslichen Verhältnissen stammten, in denen Mann und Frau nicht verheiratet waren. Einen ähnlichen Anteil unverheirateter Paare stellte auch Dr. med. habil. Robert Engelsmann, Dozent für Hygiene und Obermedizinalrat a.D., 36 in einer Umfrage unter kinderreichen Familien in Lübeck fest, der umfangreichsten Studie, die in Westdeutschland bis 1953 über Kinderreiche angefertigt worden war.
Bei den 2638 Antworten, die bei Dr. Engelsmann einliefen, war in 471 Fällen, also bei fast 18 Prozent der Kinder, als Beruf des Familienoberhauptes »Witwe« eingetragen. Erstaunlicherweise hatten von diesen 471 Witwen noch 403 nach dem Krieg Kinder geboren: 103 Frauen ein weiteres Kind, 58 zwei, 28 drei und 25 vier weitere Kinder. Und noch etwas erstaunte Dr. Engelmann. Während in den »unversehrten« Familien nach dem Krieg durchschnittlich 0,73 Kinder geboren wurden, waren es in den Onkelehen 1,89 Kinder. Engelmanns mannesbewusst vorgetragene Schlussfolgerung: »Der Onkel ist das Salz in der Familie.« 37
Die Onkelehen enthüllten die Ohnmacht der staatlichen und kirchlichen Tugendwächter, die ihre moralischen Normen nicht gegen finanzielle Erwägungen durchsetzen konnten. Als mit der Neuordnung des Bundesversorgungsgesetzes im Jahre 1960 der Anspruch auf Kriegerwitwenrente auch nach dem Tod des zweiten Mannes und bei schuldloser Scheidung wieder auflebte, verschwand die Onkelehe in kürzester Zeit aus dem gesellschaftlichen Leben. Paare waren nicht mehr gezwungen, zwischen Moral und Geld zu entscheiden.
Als moralisch noch bedenklicher als die Onkelehen galten Beziehungen deutscher Frauen zu den Besatzungssoldaten.
Das Ausmaß der Fraternisierungen überraschte Deutsche und Amerikaner gleichermaßen; diesseits und jenseits des Atlantiks wurden
die Kontakte als unpatriotisch und unmoralisch verurteilt. In Deutschland galten die Frauen als Verräterinnen, die die Schicksalsgemeinschaft der Geschlagenen
Weitere Kostenlose Bücher