Endlich wieder leben
pumpen, mit Stricknadeln oder Fahrradspeichen in die Fruchtblase einzudringen.
Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen findet Anne in Martin Walsers Ehen in Philippsburg einen Arzt, der den illegalen Eingriff vorzunehmen bereit ist.
»Anne hatte dem Arzt tausend Mark gegeben. Darauf hatte der die Fruchtblase gesprengt und Wehenmittel gespritzt. Zwei Tage geschah nichts … Am dritten Tag blieb Anne vier Stunden im Haus des Arztes. Sie wurde angeschnallt. Die Frau des Arztes gab ihr Spritzen. Dann begann der Arzt die Frucht herauszuschneiden. Anne schrie. Die Betäubung wirkte nicht. Der Arzt sagte: ›Das kommt gleich. Wir haben Ihnen eine schicke Narkose gegeben.‹ … Drei Stunden schnitt und riss er mit Messern und Zangen in ihr herum, förderte blutige Fleischstücke zutage, die er alle in eine große weiße Schüssel warf … Wenn Anne die Augen auch nur für eine Sekunde schloss, stieß die Arztfrau sie sofort heftig ins Gesicht und sagte: ›Was ist los mit Ihnen! Sie! Die Augen auf, he!‹ Sie schien große Angst zu haben. Da wusste Anne, dass man ihr gar keine Narkose gegeben hatte.« Als die Blutung nach der Abtreibung nicht aufhört, sieht sich der Arzt gezwungen, Anne in die Klinik zu schicken. »Ich rufe jetzt einen Wagen. Aber wenn Sie in der Klinik fragen, von welchem Arzt Sie kommen, sagen Sie ja keinen Namen. Die Schwestern werden Ihnen drohen, sie werden sagen: Wir lassen Sie ausbluten, wenn Sie den Namen nicht sagen. Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Die müssen Sie behandeln.« 28
Das Zusammensein von Unverheirateten war nicht nur gesellschaftlich geächtet, seine Duldung wurde juristisch verfolgt. Hauseigentümer, Hotelbesitzer und Verwandte liefen Gefahr, wegen Kuppelei angezeigt zu werden, wenn sie an unverheiratete Paare vermieteten oder ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung stellten. In dem Urteil des Bundesgerichtshofes zum »Verlobtenbeischlaf« (1954) wurde sogar eine Mutter verurteilt, weil sie geduldet hatte, dass ihre mit einem geschiedenen Mann verlobte Tochter bei ihr übernachtete – ein Tatbestand der schweren Kuppelei, wie der Bundesgerichtshof meinte, der mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis bei mildernden Umständen geahndet werden konnte. Erst 1969 wurde der Kuppeleiparagraph abgeschafft. 29
Nacktheit in der Öffentlichkeit war verpönt. Im Unterschied zur DDR, in der Freikörperkultur weit verbreitet war und 1956 nach
einer kurzen, zweijährigen Einschränkung an der Ostsee wieder erlaubt werden musste, kannte die Bundesrepublik nur wenige, streng abgegrenzte Nacktbadestrände an Nord- und Ostsee. Marylin Monroe und Brigitte Bardot, die sich mit Bikinis zeigten, blieben skandalträchtige Ausnahmen. Erst der »Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini«, der 1960 in den USA und in Deutschland auf Platz Eins der Hitparaden kletterte, leitete den Siegeszug des Zweiteilers in Deutschland ein.
Sittenwächter fanden sich vor allem in konservativen Parteien, der katholischen Kirche und in den mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Organisationen. Besonderen Eifer zeigten der in Köln ansässige Volkswartbund, die »Bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Sittlichkeit« und ihr Dienstherr, der Kölner Erzbischof und spätere Kardinal Josef Frings. Frings protestierte, als die alliierten Besatzungsmächte Jugendlichen den Besuch von Filmvorführungen erlaubten und die Herstellung und den Vertrieb von Kondomen nicht mehr beschränkten. Er protestierte gegen den Film Die Sünderin mit Hildegard Knef (1951), da er auf »eine Zersetzung der sittlichen Begriffe unseres christlichen Volkes« ziele: Nicht nur, dass im Zentrum des Geschehens eine Prostituierte stand; sie unterstützte ihren unheilbar an einem Gehirntumor erkrankten Geliebten auch noch beim Freitod. Ein Christ, der diesen Film besuche, so Frings, mache sich mitschuldig »an einer unverantwortlichen Verherrlichung des Bösen«. Jahrelang stritt Frings auch gegen das »geistige Gift« und das »Niedere« der »Schund- und Schmutzliteratur«, die das Land in Millionenauflage in Form von erotischen Magazinen, Sittenromanen, sexuell aufgeladenen Skandalgeschichten in Wochenendbeilagen oder als so genannte Liebes- und Ehebücher überschwemmte. »Als größtes Hemmnis für einen situationsgerechten Jugendschutz aber muss die Tatsache angesehen werden«, befand der Volkswartbund, »dass … die Freiheit der Kunst als ein höheres Gut angesehen wird als eine gesunde und sittlich intakte
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