Endlich wieder leben
Jugenderziehung.«
Freiheitsrechten, so argumentierten SPD und KPD tatsächlich, komme ein höherer Rang zu als der Sittlichkeit. Und sie wehrten
sich gegen ein Gesetz, das die Verbreitung jugendgefährdender Schriften beschränken sollte. Erst im Juni 1953 wurde im Bundestag ein Kompromiss erzielt, wonach jugendgefährdende Schriften nicht mehr öffentlich beworben und nicht an Jugendliche unter 18 Jahren verkauft werden durften. Eine neugeschaffene Bundesprüfstelle konnte zudem jugendgefährdende Druckerzeugnisse auf Antrag prüfen und gegebenenfalls auf den Index setzen lassen. (Bis 1958 gerieten 550 Titel auf diese schwarze Liste.) Weitere Maßnahmen zum Jugendschutz sollten ab 1955 den Alkoholkonsum und den Besuch von Gaststätten einschränken. Um 22 Uhr erschienen Zivilstreifen des Jugendschutzes auf Tanzveranstaltungen, Konzerten und Volksfesten, um Besucher unter 18 Jahren vor den »Ausschweifungen«, »Ausartungen« und Verführungen der »unheimlichen Vergnügungssucht« zu schützen.
Neben den strengen Regeln im öffentlichen Raum existierte im Privaten allerdings eine relativ große Toleranz gegenüber »unmoralischem« Verhalten. In einer Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem Jahre 1953 erklärten zwar 89 Prozent der Befragten die Ehe für notwendig, 71 Prozent aber billigten sexuelle Beziehungen zwischen unverheirateten Personen, wobei die Frauen sich mit 66 Prozent nur unwesentlich in ihrer Haltung von den Männern mit 76 Prozent unterschieden. Eine 36-jährige Beamtenwitwe erklärte: »Man muss gerade heute die Verhältnisse berücksichtigen, die oftmals eine Heirat unmöglich machen.« Ähnlich argumentierte ein Handwerker: »Wenn die unverheirateten Frauen keinen passenden Ehepartner gefunden haben, bleibt ihnen nichts anderes übrig.« 30 31 Prozent der Befragten nahmen sogar außereheliche Beziehungen weitgehend vorbehaltlos hin. 33 Prozent hatten auch nichts dagegen einzuwenden, dass eine ledige Frau Mutter wird, nur 18 Prozent verurteilten eine uneheliche Mutterschaft von vornherein.
Wie schwierig trotz allem das Leben von ledigen Frauen oder Witwen war, die ohne Trauschein mit Männern zusammenlebten oder uneheliche Kinder gebaren, schilderte Heinrich Böll in seinem Roman Haus ohne Hüter. 31
Es war unmoralisch , wusste schon der dreizehnjährige Heinrich, dass seine Mutter sich mit Onkel Leo zusammengetan hatte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Ebenso unmoralisch war es, wie sie zuvor mit Onkel Karl und Onkel Gert und Onkel Erich zusammengelebt hatte. Insgeheim fürchtete auch sein Freund Martin, seine Mutter könnte unmoralisch sein. Warum blieb ihr Bett manchmal nächtelang leer? Warum fiel die Großmutter bei der Rückkehr über sie her: »Wo treibst du dich bloß immer herum?« Oder warum schrie sie die Tochter an: »Ist die Hurerei wieder im Gange? Dein armer Mann, der in Russlands Erde schläft.«
Als Heinrich Bölls Roman Haus ohne Hüter 1954 erschien, war die Diskussion über die so genannten Onkelehen in Westdeutschland gerade auf ihrem Höhepunkt angelangt. Schätzungsweise hundert- bis hundertfünfzigtausend Kriegerwitwen lebten damals unverheiratet mit Männern zusammen, die von den vaterlosen Kindern in der Regel als »Onkel« angesprochen wurden.
»Der Staat betrachtet das Vorhandensein dieser wilden Ehen als unerwünscht«, schrieb die Frankfurter Neue Presse im Januar 1951. »Die Bürger nehmen aus sittlichen Gründen dagegen Stellung, und der Gesetzgeber wird in den kommenden Monaten um eine Neuregelung der Renten- und Pensionsansprüche in solchen Fällen kaum herumkommen.« Solange der Staat nämlich die Kriegerwitwenrenten im Fall einer neuen Heirat strich, waren die Betroffenen eher bereit, mit einem schlechten Leumund als mit geringerem Einkommen zu leben.
Das Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 20. Dezember 1950 gestand allen Witwen unabhängig von anderem Einkommen eine niedrige Grundrente 32 und eine Ausgleichsrente zu, sofern sie den weiteren Lebensunterhalt nicht decken konnten. Im Fall einer erneuten Heirat fielen die Rentenzahlungen weg, die Frauen wurden stattdessen mit einer Einmalzahlung von 1200 DM abgefunden. Der Anspruch auf Kriegerwitwenrente lebte auch nicht wieder auf, wenn die Frau aufgrund eigenen Verschuldens geschieden wurde oder ihr zweiter Ehemann starb. Bei einer Adoption der Kinder durch den zweiten
Ehemann fiel außerdem die Waisenrente weg, und Kindergeld wurde in den fünfziger Jahren erst ab dem dritten Kind
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