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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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einem Ort der Unruhe, der Krawalle und Großdemonstrationen. Auch vor Heidelberg machte die Achtundsechziger-Bewegung nicht halt. Ich konnte keinerlei Verständnis aufbringen für Antiamerikanismus, Marxismuslob und Kritik an der sozialen Marktwirtschaft, auch nicht für die rüden Diskussionsmethoden, die vor Gewalt gegenüber dem politischen Gegner nicht zurückschreckten. In Heidelberg wurde ich selbst Zeugin von Störaktionen am Germanistischen Seminar. Lehrveranstaltungen wurden gegen den Willen der Hörer gesprengt, Klausuren verhindert, Hörsäle besetzt, Farbbeutel und Stinkbomben geworfen, die persönliche Sicherheit von Lehrkräften konnte nicht mehr gewährleistet werden. Ich entschloss mich, dagegen klare Position zu beziehen, und trat 1972 in die CDU ein. 1976 wurde ich in den Deutschen Bundestag gewählt. 1994 beendete ich meine Bundestagstätigkeit und wurde im selben Jahr wegen Erreichung der Altersgrenze als Professorin emeritiert.
    Rückblickend erscheinen mir die fünfziger Jahre in Berlin als die entscheidende Zeit zu einem Neuanfang, eine Zeit des völligen Umbruchs gegenüber Stolp, die Unheil und Segen zugleich in sich barg.

ÜBER SITTLICHE UND UNSITTLICHE BEZIEHUNGEN
    D ie fünfziger Jahre – das prüde Jahrzehnt. Wer damals in der Bundesrepublik aufwuchs, litt darunter, dass die Sexualität von Anrüchigkeit und Geheimniskrämerei umgeben war. Selbst liberale Eltern brachten das Thema selten zur Sprache. Jutta Brückner hat die muffige, verklemmte und bedrückende Atmosphäre in ihrem Film Hungerjahre rekonstruiert.
    Als die etwa dreizehnjährige Ursel auf der Toilette das erste Mal auf eine blutig verschmierte Unterhose stößt, läuft sie erschrocken zur Mutter: »Mama, Mama, ich bin krank! Ich habe Blut in der Hose!« 27
    »Das haben alle Frauen, damit sie Kinder kriegen können«, erklärt die Mutter lakonisch und fügt gleich die Mahnung hinzu: »Du darfst dich auf keinen Fall mehr mit Jungens treffen.«
    »Und baden darfst du auch nicht mehr, wenn du das hast«, weiß die Großmutter.
    Ein Stoffgürtel wird ihr um die Taille gelegt, schmale Streifen mit einem Knopf am Ende baumeln vorn und hinten, an denen die Mutter eine Stoffbinde befestigt. Das ist etwas, spürt Ursel, was ihr nicht nur die körperliche Ungezwungenheit raubt, es beendet auch ihre Unbefangenheit im Umgang mit den Jungen. Auf einmal steht sie im Verdacht, verführbar zu sein, ihre Ehre aufs Spiel zu setzen und der Familie Schande zu bereiten.
    »Wenn du eines Tages mit einem unehelichen Kind daherkommst  – ich bringe dich um, Kind! Das ertrag ich nicht, wenn meine einzige Tochter sich wegwirft.«
    Ursel verwirrt die Widersprüchlichkeit der vermittelten Botschaften. Einerseits ist Sexualität faszinierend unanständig. »Papa
holt den Dicken raus/Mama zieht sich nackend aus./Einmal rein, einmal raus/Fertig ist der kleine Klaus«, skandieren die kleinen Kinder im Park und freuen sich diebisch, etwas Verbotenes laut ausgesprochen zu haben.
    Doch in der Ehe scheint Sexualität mehr Pflicht und Last als Begehren.
    »Ich bin ja ganz froh, wenn er mich in Ruhe lässt«, sagt Ursels Mutter zu Ursels Großmutter, »aber das kann doch nur bedeuten, dass er eine andere hat.«
    In dieser verklemmten Sexualmoral gibt es keinen glücklichen Ausgang. Ursels Körperlichkeit und Lust werden gestutzt, bevor sie sie entdecken kann. Am Schluss verbrennt ein Foto mit dem Mädchen. Aber nicht die Person wird zerstört, sagt die Regisseurin, sondern das Bild, das sie in sich trägt.
    Es gab noch keine Pille. Sich hinzugeben, war bei Frauen immer mit der Angst vor einer Schwangerschaft verbunden. Das traf für Verheiratete, weit mehr noch für Unverheiratete zu.
    »Warum küssen wir uns nur«, fragt der junge ungarische Student (Horst Buchholz) die junge Näherin (Romy Schneider) in Helmut Käutners Film Monpti (1957).
    »Das Andere«, entgegnet die Siebzehnjährige, »das … möchte ich nicht. Ich möchte auch nicht, dass du davon sprichst.«
    Denn das »Andere«, so hatte sie wie alle jungen Mädchen gelernt, sei nur in einer Ehe gestattet. Wer ohne Trauschein schwanger wurde, »musste« entweder heiraten, um der vorehelichen Sexualität wenigstens im Nachhinein etwas von der Schande zu nehmen. Oder er stand unter Druck, illegal bei einer »Engelmacherin« oder einem Arzt abtreiben zu lassen beziehungsweise selbst eine Fehlgeburt zu provozieren – ein Dutzend Mal vom Heuboden zu springen, Seifenwasser in die Gebärmutter zu

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