Endlich wieder leben
Großmutter immer: »War er denn auch mal da?« Oder als er mitgefahren war: »Wer hat denn wo geschlafen?« Trotz anders lautender Versprechen ist Onkel Selk jedoch nur ein einziges Mal mitgefahren. Meine Mutter war immer außer sich, wenn er am Tag der Abreise einfach nicht erschien. Ich erhielt allerdings auf diese Weise auf Spiekeroog ein Zimmer ganz für mich allein unter dem Dach.
Dank Onkel Selk erhielten wir, was wir uns sonst nicht hätten leisten können. Meine kleine Schwester ließ sich mit Bonbons bestechen. Das habe ich ihr immer vorgeworfen. Mich hat er nicht einmal mit dem Kleid gewonnen, das er mir für den Abschlussball der Tanzstunde schenkte. Schwerer fiel es schon, seinem Werben zu widerstehen, als er eines Tages mit einem Plattenspieler vor der Tür stand. Und was für einem Plattenspieler: Der Deckel ließ sich aufklappen, darunter befand sich Raum für die Schallplatten, das ganze Dorf stand bewundernd um das schöne Holzgehäuse herum. Sogar für Platten hatte Onkel Selk gesorgt. Aber was war’s? Operette. So hatte ich einen guten Vorwand, meine Distanz zu ihm zu wahren, denn ich liebte klassische Musik und Opern.
Von einer Nachbarin erfuhr ich später, dass meine Mutter sich über Onkel Selk auch beschwert hat: »Meine besten Jahre habe ich an diesen Mann verschwendet!« Es hat sie gekränkt, dass sie ihn nie ganz für sich hatte und sich immer mit dem zweiten Platz begnügen musste. Erst als er sehr krank war, wollte sich seine Frau scheiden lassen. »Aber da wollte ich ihn nicht mehr heiraten«, soll meine Mutter der Nachbarin erzählt haben. »Wieso sollte ich jetzt den kranken Mann pflegen?« Ein letztes Mal fühlte sie sich nach seinem Tod zurückgesetzt. Er hatte sie nicht in seinem Testament bedacht. Als ich kurz vor ihrem Tod versuchte, mit ihr noch einmal über die Beziehung zu reden, winkte sie ab: »Über so was spricht man nicht.«
Ich war fünfzehn und erleichtert, als Onkel Selk starb: Den sind wir los! Ich habe die Schuhkartons nach seinen Fotos durchsucht und jedes Foto zerrissen, auf dem er abgebildet war. Ich habe ihn gehasst, weil ich eifersüchtig war, da sie so viel Zeit mit ihm verbrachte. Außerdem hatte sich irgendwie auch in mir etwas von dem Gerede über das unmoralische Verhältnis festgesetzt.
Meine Mutter wirkte in unserem traditionsgeprägten Ambiente wie ein sympathisches, aber nicht wirklich standesgemäßes Enfant terrible. Das Moderne, wie sie es verkörperte, erschien mir unmoralisch, laut, bunt und oberflächlich. Männer, schicke Kleider, Kosmetik, Rock ’n’ Roll, Tanzschule wirkten auf mich nicht verführerisch, eher abstoßend. Ich sah mir im Fernsehen lieber Übertragungen von Opern und Theaterstücken an und versenkte mich in Bücher aus unserer Bibliothek, in denen mich beispielsweise Eduard von Keyserling in die Schlösser und Landhäuser der ebenfalls vom Abstieg bedrohten baltischen Adelsfamilien entführte.
Dabei war meine Mutter nicht die einzige Frau, die in unserem Freundeskreis »unmoralisch« lebte. Tante Annemarie, eine ihrer besten Freundinnen, stramm katholisch, aus einer alten Hammer Bürgerfamilie, hatte sich mit Onkel Wilhelm zusammengetan. Da Tante Annemarie ihren Kindern und den anderen Familienangehörigen keine »Schande« bereiten wollte, hat sie Onkel Wilhelm nach einiger Zeit geheiratet. Meine Mutter verstand ihre Freundin damals nicht.
»Wie kann man als Witwe eines Amtsrichters nur auf eine so sichere und gute Pension verzichten! Und dann noch für den Mann! Der hat nichts und ist in absentia in Polen zum Tode verurteilt worden wegen SS-Schweinereien. Wieso will sie den heiraten?«
Ich bin damals richtig wütend auf meine Mutter gewesen und habe sie angeschrien: »Sonst hast du ja nichts gegen Kriegsverbrecher. Warum auf einmal bei Onkel Wilhelm?«
Das muss 1952 oder 1953 gewesen sein, als ich mitbekam, dass unser schönes zweistöckiges Haus bei Bad Salzuflen einem jüdischen Zahnarzt gehört hatte, der es unmittelbar vor seiner Emigration nach London zu einem Spottpreis an meine Familie verkauft hatte. Nun hatte er uns ausfindig gemacht und forderte die Differenz zum fairen Kaufpreis. Ich höre noch, wie mein Onkel, meine Mutter und meine Großmutter auf übelste Weise über ihn herzogen. »Das ist wieder typisch jüdisch. Der ist nur hinter dem Geld her!«
Damals habe ich meiner Erinnerung nach den ersten Konflikt mit Mutter und Großmutter wegen der NS-Zeit ausgetragen. Meine Großmutter hatte das Haus des
Weitere Kostenlose Bücher