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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Mutter. Und in Hamm, wo ich auf das Gymnasium ging, hörte ich immer wieder mitleidige Äußerungen wie: »Die armen kleinen Enkelinnen von Doktor L., die wohnen jetzt auf dem Dorf.« Plötzlich waren wir die Unkultivierten vom Land, obwohl doch meine Großmutter und meine Mutter gutbürgerlichen Familien aus der Stadt entstammten.
    Meine Mutter hat immer betont, wie viel besser es wäre, wenn es wieder einen Mann im Hause gäbe. Sie nahm zwar gern selbst die Zügel in die Hand, hätte die Rolle der Alleinverdienerin aber gern aufgegeben für ein angenehmeres Leben wie vor 1939. Da amüsierte man sich in Hamm auf den großen Korpsbällen meines Vaters, traf sich im Ruder- und Tennisklub und gehörte zu den besseren Kreisen. Sie genoss das gesellschaftliche Leben, Hausfrau wollte sie nie sein. Allerdings erwies sie sich als Witwe als erstaunlich selbstständig und handfest. Gleich nach dem Krieg arbeitete sie für einen Holländer, der unseren Hof gepachtet hatte. Sie führte sein Büro,
organisierte die Arbeit der Frauen aus dem Dorf und ging selbst mit aufs Feld. Ich sehe sie noch fröhlich mit roten Backen und dicker Schürze über den Hof laufen. Solche Arbeit lag ihr.
    Danach übernahm sie die Vertretung für eine Kosmetikfirma. Voller Begeisterung wühlten meine Schwester und ich in ihrem Musterkoffer mit all den Lippenstiften, Nagellackfläschchen und Cremes. Meine Mutter war selbst die beste Reklame für ihre Produkte. Sie schminkte sich, malte sich die Lippen an und hatte rot lackierte Fingernägel – und das bei uns auf dem Dorf! Da war sie schon wieder die »leichte« Frau. Aber es war ihr egal, wenn sich die Leute auf der Straße nach ihr umdrehten und über sie redeten. Sie war, wie sie war: Nehmt mich so, wie ich bin. Das hat mir einerseits imponiert. Sie sah fantastisch aus, war groß wie Ingrid Bergman, strahlte Lebenslust aus und war in jeder Beziehung eine Erscheinung. Andererseits war es mir peinlich, dass sie sehr bunte – zu bunte, wie ich meinte – Kleider trug, dass sie sich die Haare braunrot färbte und laut und volkstümlich derb sein konnte. Bei den Leuten kam das an, ich hingegen genierte mich: »Mutti, musst du so laut sein?« Ich hätte gern eine Dame als Mutter gehabt, eine Intellektuelle dazu. Um mich von ihr abzugrenzen, trug ich graue Faltenröcke und weiße Blusen, und sie sagte mit verächtlichem Blick: »Igitt!« Sie hatte keine Ahnung, was in ihren beiden großen, dünnen Töchtern vorging, die schattenhaft, verschlossen, unsicher und ängstlich waren, so ganz anders als die Mutter.
    Schließlich wurde meine Mutter Vertreterin für eine pharmazeutische Firma. Sie hatte ein kleines Auto, verkaufte Heftpflaster, Spritzen und Tabletten an Arztpraxen und tat, als hätte sie als Tochter und Schwester eines Arztes selbst Ahnung von Medizin – dabei verstand sie nichts davon. Doch als Tochter von Doktor L. öffneten sich ihr alle Türen. Auch diese Arbeit hat sie genossen, was sie nicht hinderte, in regelmäßigen Abständen ihr Klagelied anzustimmen: »Ich wünschte, hier wäre ein Mann im Haus.«
    Die Beziehung zu Onkel Selk hat sie bis zu seinem Tod 1954 aufrechterhalten. Der Mann gab ihr Geld, Auto, Ravioli, Pelzmantel, Ferien. Er hat sie und uns üppig beschenkt, durch ihn erhielten wir 1954 den ersten Fernseher im Ort.

    Bild 8
    In der Woche trugen Hausfrauen, Arbeiterinnen und Verkäuferinnen selbstverständlich Schürzen über Rock und Bluse. Für Sonn- und Feiertage aber ließen sie schneidern oder schneiderten selbst mithilfe der Schnittmuster von »Burda«. Modezeitschriften zeigten, welche Hüte, Schuhe und Taschen die Dame zu den eleganten Kleidern und Kostümen trug.
    Wenn Selk nicht regelmäßig kam, rief sie ihn wütend an (wir hatten schon ein Telefon), obwohl sie riskierte, abgewimmelt zu werden: »Ich kann jetzt nicht sprechen. Meine Frau ist im Hintergrund.«
    Einmal war Onkel Selk dabei, als wir in Urlaub fuhren, nach Dahme an der Ostsee. Ich fand den dicken Mann mit der Badehose am Strand unendlich peinlich und ekelte mich, wenn er sich im Pensionszimmer in der Waschschüssel wusch. Später habe ich mich gefragt: Wo und wann hatten die beiden Sex? Meine Schwester schlief mit unserer Mutter in einem Ehebett, ich musste mir mit Onkel Selk das Ehebett im zweiten Zimmer teilen. Ich habe getobt wie eine Hornisse und war wütend und neidisch auf meine Schwester, die durchsetzen konnte, dass sie bei Mutter schlief.
    Wenn wir aus den Ferien zurückkamen, fragte die

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