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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Rosen für den Staatsanwalt. Meiner Neigung zum Sarkasmus kam besonders der Film des Berliner Emigranten Ernst Lubitsch Sein oder Nichtsein entgegen. Die Geschichte einer kleinen Schauspielertruppe in Warschau, die sich unter deutscher Besatzung in eine Widerstandsgruppe verwandelt, gelangte in Deutschland ja erst 1960 in die Kinos, achtzehn Jahre nach der Erstaufführung des Films.
    Sie mussten doch etwas gewusst haben! In Großmutters Straße wohnten doch ein jüdischer Zahnarzt, ein jüdischer Rechtsanwalt, ein jüdische Arzt, die genau wie sie zum Bürgertum von Hamm gehört hatten. »Wieso fandest du gar nichts dabei«, warf ich ihr vor, »dass die eine Hälfte wegziehen musste, weil Hitler den Juden die Existenzgrundlage entzog, und die andere Hälfte verschwand, weil
Hitler die Juden ausrotten ließ? Wenn sie auch nicht deine Freunde waren, so waren sie doch deine Nachbarn!« Dann hörte ich von meiner Großmutter immer nur: »Wir konnten nichts tun. Das war doch alles angeordnet von Berlin!« Und ich: »Na und, wurde es dadurch besser?« Und sie: »Ich habe Dr. Goldschmidt doch noch geholfen und ihm den Teppich abgekauft.«
    Wir hatten also nicht nur ein Haus von einem Juden, wir hatten auch einen Teppich von einem Juden. Erst lag er im Wohnzimmer meiner Großmutter, dann im Esszimmer meiner Mutter. Und nun liegt er bei mir. Er ist ziemlich zerfetzt, nichts mehr wert, aber ich habe ihn im Schnee gereinigt und notdürftig reparieren lassen. Meine beiden Söhne haben bereits ihr Interesse bekundet, ihn nach mir zu übernehmen. Vielleicht ist das irrational. Aber der Teppich ist für mich gegenständlich gewordene deutsche Geschichte. Durch ihn fühle ich mich mit der Vergangenheit und irgendwie auch mit einer Unterlassungsschuld der Familie verbunden.
    Vor kurzem stieß ich im Radio zufällig auf Arnold Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau . Der Text wurde auf Englisch gesprochen. Als im Englischen plötzlich die deutschen Wörter Achtung! und Aufstehen! auftauchten, stiegen Scham- und Schuldgefühle in mir hoch. Hätte ich nicht gewusst, dass das Stück nur elf Minuten dauert, hätte ich das Radio abgestellt. Ich konnte es kaum ertragen.
    Im Nachhinein betrachtet hat die familiäre Vergangenheit wohl tiefere Spuren hinterlassen, als mir lange bewusst war. Schon als Kind habe ich mich für Geschichte interessiert. Andere haben Märchen gelesen, ich aber habe gebettelt: »Großmutter, erzähl mal, wie es früher war!« Oder ich habe mir den Bildersaal deutscher Geschichte gegriffen, den dicken Geschichtsschinken von 1890. Bis heute erinnere ich mich an den ersten Satz, den ich daraus lesen lernte: »Wutentbrannt durcheilte Hermann die deutschen Auen.« Ich habe meine Großmutter so lange gequält, bis sie mir die gotischen, altdeutschen Buchstaben erklärte. Als ich mir irgendwann, da kann ich noch keine sechs Jahre gewesen sein, den ersten Satz zusammensetzen konnte, war es das Erfolgserlebnis meines kleinen Lebens. Später waren die
Lehrer verzweifelt, wie sie diesem seltsamen Kind die lateinische Schrift und die richtige Rechtschreibung beibringen sollten, denn ich schrieb Tod mit dt und rot mit h am Ende.
    Historische Bücher wurden und blieben meine Leidenschaft. Einmal hat mir meine Mutter zum Geburtstag Karin von Schweden geschenkt, eine Biographie über die Frau von Gustav Wasa, der Schweden von Dänemark befreite. Obwohl ich das Buch mit zehn Jahren las, fiel es mir sofort wieder ein, als ich fünfzig Jahre später nach Stockholm flog. Und ich bin sofort ins Museum gelaufen, um die Skulptur von König Gustav Wasa zu sehen, der es schaffte, Schweden aus der Kalmarer Union zu lösen.
    Am liebsten hätte ich Geschichte studiert. Aber dann habe ich das Abitur geschmissen. In allen schöngeistigen Fächern gab es keine Probleme, aber hoffnungslos gescheitert bin ich in Mathematik, Physik und Chemie. In allen drei Fächern hatte ich drei Jahre lang eine Fünf. Irgendwann in der Unterprima legte ich deshalb meiner Mutter die Abmeldung vor: »Entweder du unterschreibst, oder ich fälsche die Unterschrift. Ich werde Buchhändlerin, da kann ich endlich alles lesen, was ich will.« Ich wurde tatsächlich Buchhändlerin und konnte alles lesen, was ich wollte. Doch der Beruf hatte einen Makel. Buchhändlerinnen waren damals höhere Töchter, die es zum Studium nicht geschafft hatten. Das fehlende Abitur hat mich noch jahrzehntelang verfolgt. Ich war schon längst verheiratet, hatte Kinder und lebte in Amerika.

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