Endlich wieder leben
Bett meiner Mutter hing, hängt jetzt neben meinem Bett. Auf die Rückseite habe ich seine Blech-Erkennungsmarke geklebt, die erstaunlicherweise nach seinem Tod nicht durchbrochen wurde. Ich habe auch versucht, über die Kriegsgräberfürsorge herauszufinden, wo er begraben liegt. Hätte er ein Einzelgrab, wäre ich nach Russland gefahren und hätte es besucht. Aber er liegt verscharrt in einem Massengrab. Und wegen eines Massengrabes fahre ich nicht nach Smolensk.
Ich habe nur zwei ganz flüchtige Erinnerungen an meinen Vater, denn als er im September 1939 eingezogen wurde, war ich erst ein halbes Jahr alt. Danach kam er nur immer kurz auf Urlaub. Einmal steht ein Mann in Uniform im Badezimmer, wirft mich in die Luft, und ich lache. Ein anderes Mal liege ich im Bett und bete: Lieber Gott, mach mich fromm, und lass Vati wieder gesund nach Hause kommen. »Heute brauchst du nicht für mich zu beten«, sagt da ein Schatten neben mir, »ich bin ja zu Hause.«
Ich habe ihn stark vermisst, habe im Alter von acht bis zehn Jahren viel geweint, ganz schlimm war es auch in der Pubertät. Gäbe es einen Vater, dachte ich, wäre alles einfacher für mich. Ich fühlte mich vom Schicksal schlecht behandelt. Als Adenauer 1955 die letzten
Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion holte, habe ich den Fernseher angestellt. Und während Mutter und Großmutter unisono erklärten: »Wir wollen das nicht sehen!«, habe ich gebannt den ganzen Nachmittag vor dem Bildschirm gehockt: Vielleicht ist er ja doch dabei! Vielleicht kommt er doch noch zurück!
Dazu kam, was selten in Deutschland war: Alle meine Schulkameraden in der Grundschule hatten einen Vater. Flüchtlingskinder gab es mehrere, aber in meiner Klasse war ich die Einzige, die aufstand, wenn nach Kriegswaisen gefragt wurde – und das bei 25 Kindern. Das war mir peinlich. Später auf der Oberschule in Hamm war das anders.
Ich sehnte mich nach einer Familie, wie ich sie nicht gehabt hatte, einer Familie mit einem Ehemann und einem Vater. Wahrscheinlich wurde ich deswegen so nachtragend, als mich mein Mann nach fast dreißig Ehejahren verließ. Neben der persönlich bedingten Enttäuschung, neben Wut und Trauer hat mich der Verrat an der Idee der Familie verletzt. Zu einer Familie gehört nach meiner Auffassung, dass sie unauflöslich ist.
Auf dem alten Familiengut in Pelkum bei Hamm waren wir gelandet, weil unser Haus bei Bad Salzuflen von der britischen Besatzungsmacht beschlagnahmt worden war. Früher, als die Herren Schulze-Pelkum noch Dorfrichter und Ehrenamtmann des Amtes Pelkum sowie Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses waren, stellte die Familie etwas dar. Nach dem Tod der Urgroßeltern gegen Ende des Ersten Weltkriegs begann der Abstieg. Mein Großvater zog als Arzt bereits in die Stadt; eine Zeitlang stand der Hof leer. Dann quartierte sich die NS-Reichsbauernschaft Zweigstelle Pelkum ein. Als die Amerikaner 1945 auf die mit nationalsozialistischen Fahnen, Wappen und Abzeichen ausgeschmückten Räume stießen, haben sie das Mobiliar kurz und klein geschlagen, die Fensterscheiben zertrümmert, die Kleidung auf dem Dachboden geplündert, sämtliche Tasten aus Tante Ernas Flügel herausgerissen. Selbst die Jalousien wurden gewaltsam aus ihren Fassungen gezerrt, so dass die Fenster notdürftig mit Holzlatten verschlossen werden mussten.
Nach dem schönen Haus bei Bad Salzuflen empfand ich Pelkum als unglaublichen Abstieg. Das Haus, das einmal einer einzigen Familie zur Verfügung gestanden hatte, beherbergte nun fünfzig Menschen, vor allem Flüchtlinge, die sich zwei Ziehtoiletten und ein Plumsklo teilten, überall standen zusätzlich Pinkelpötte herum. Unser Ziehklo war fast ständig verstopft. Wie das stank!
Und dann diese Weiberwirtschaft! Meine Mutter, meine Großmutter und wir beiden Töchter schliefen zusammen in einem Zimmer: Mutter und Großmutter im Ehebett meiner Eltern, meine Schwester und ich in den »Übereinanderbetten«, die wir gebaut hatten. Zu unserer Großfamilie gehörten noch die beiden verwitweten Schwestern meiner Großmutter. In dem doch recht einfachen Bad hingen für jede Frau ein Handtuch und ein Waschlappen; ich habe immer geschnüffelt, ob jemand mein Handtuch benutzt hat.
Wir gehörten nirgends mehr dazu. Im Dorf gab man uns zu verstehen, dass wir – so ganz ohne Glanz und Gloria und runtergekommen wie einst die Buddenbrooks – keine Autorität mehr darstellten. Außerdem war da der Makel mit dem unmoralischen Verhältnis meiner
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