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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Hause. Sein Pkw der Marke Borgward und die Dosen mit Ravioli müssen meine Mutter bewogen haben, sich wieder mit einem Mann einzulassen. Dabei war er ziemlich dick und ungebildet. Er hatte keine Kinder, war aber verheiratet, und seine Frau wollte sich nicht scheiden lassen. Meistens besuchte er uns zum Essen, danach stieg er mit meiner Mutter ins Auto und verschwand mit ihr. Über Nacht blieb er nie.
    Meine Großmutter hat deutlich zu verstehen gegeben, dass sie das Verhältnis unmöglich fand. Unmoralisch, so was tut man nicht, schon gar nicht, wenn erst drei Jahre seit dem Tod des Ehemannes vergangen sind. Es hat deswegen viel Ärger zwischen den beiden Frauen gegeben. Obwohl ich eifersüchtig war und Onkel Selk nicht ausstehen konnte, habe ich mich immer auf die Seite meiner Mutter gestellt. Was die Beziehung für meine Mutter bedeutete, konnte ich noch nicht ermessen – wahrscheinlich war Sexualität für diese lebenslustige und erdverbundene Frau wichtig. Ich war einfach böse, wenn sie, die ich abgöttisch liebte, mit spießigen Gründen von einer Frau angegriffen wurde, die ich schrecklich langweilig fand. »Völlig egal, was die Nachbarn denken«, habe ich meine Großmutter angebrüllt und die Türen geknallt. Vielleicht waren die im Dorf einfach nur neidisch, dass bei uns Büchsen-Ravioli auf dem Tisch standen …
    Mein Vater existierte in der Familie nur als eine Schattengestalt. Als er 1942 in sowjetischer Gefangenschaft starb, war meine Mutter
32 Jahre alt. Gerade einmal sechs Jahre hatte ihre Ehe gedauert. Wenn meine Mutter von ihrem Mann erzählte – und das geschah nur, wenn ich sie ausdrücklich danach fragte –, schilderte sie ihn immer als lustig, aber schwach. Bei Besuchen von Freunden hätte er zunächst die ganze Runde amüsiert und sei dann noch in der Gesellschaft eingeschlafen. Konnte man ihn überhaupt ernst nehmen? Ich weiß nur, dass er gern historische Bücher las. Von meiner Mutter aber hörte ich nur lauter komische Geschichten vom »Sonnyboy«. Angeblich soll seine Mutter meine Mutter vor der Heirat gewarnt haben: Er sei nicht ganz zuverlässig. Er trank gern und hatte ungeheure Schulden.
    »Ob unsere Ehe gehalten hätte«, meinte meine Mutter, »weiß ich nicht. Er war halt ein schwacher Mensch.« Und ich dachte, so etwas sagt man kleinen Töchtern nicht.
    Sie hat ihn aber auch nie als einen Helden dargestellt, der für das Vaterland gefallen sei. Nur dann, wenn ich zehn Pfennig für die Schulverwaltung brauchte, hieß es: »Ich habe kein Geld, ich habe für das Vaterland mein Liebstes gegeben, was ich hatte.« Dass er zum Helden wurde, wenn es ums Geld ging, hat mich schon als Zehnjährige gegen Heldenverehrung misstrauisch werden lassen. Ich konnte später nur mühsam meine Schwiegermutter ertragen, deren Denken noch nach drei Jahrzehnten um einen idealisierten, gefallenen Ehemann kreiste. Das war die Kriegerwitwe, wie man sie erwartete: treu bis zum Tod.
    Im Krieg hatten wir nur die übliche offizielle Vermisstenmeldung erhalten. Etwas später kam ein Brief seines Vorgesetzten, der Vater als liebenswürdigen, zuverlässigen und netten Menschen schilderte. Diesen Brief habe ich immer und immer wieder gelesen, weil aus ihm ein so anderes Bild hervorging als aus den Schilderungen meiner Mutter. Leider ist er irgendwo verschwunden.
    Die genauen Umstände vom Tod meines Vaters haben wir erst nach 1945 erfahren. Da tauchte ein Mann auf, der meinen Vater in einem russischen Kriegsgefangenenlager kennen gelernt hatte, ein Schreiner aus dem Nachbardorf, wie sich in ihren langen Gesprächen
herausstellte. Mitten im Krieg bei Smolensk hatten sich die beiden kranken Männer auf ihren Pritschen versprochen: Wer überlebt, wird der Familie des Anderen Bescheid sagen. So erfuhren wir, dass mein Vater im Oktober 1942 gefangen genommen worden war und einen Monat später an Typhus oder Entkräftung gestorben ist. Wahrscheinlich stammen auch das Tagebuch, die Blechmarke, der Siegelring und die Brieftasche mit dem Arbeitsbuch meines Vaters von diesem rührenden Kameraden. Er muss sie bis Kriegsende in seinem Gepäck mitgeschleppt haben, um meiner Mutter die Gewissheit zu verschaffen: Ihr Mann ist gefallen.
    Ich hätte die wenigen Hinterlassenschaften meines Vaters bei der Auflösung des Haushalts meiner Mutter am liebsten vernichtet. Mein Sohn hat mich davon abgehalten – Gott sei Dank. Heute denke ich, mein Vater darf doch nicht einfach verschwinden. Das Foto, das einst eingerahmt über dem

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