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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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jüdischen Zahnarztes aus dem Vermögen ihres verstorbenen Arztgatten gekauft, denn Bekannte aus Militärkreisen im Ersten Weltkrieg hatten prophezeit: »Der nächste Krieg wird fürchterlich, die Deutschen werden sehr schnell die Lufthoheit verlieren. Also: raus aus den Städten.«
    So waren meine Eltern kurz vor dem Krieg in die Provinz bei Bad Salzuflen gezogen; während des Krieges war uns die Großmutter aus Hamm gefolgt. Die ersten sechs Jahre meines Lebens bin ich daher in einem geräumigen, gepflegten und wunderschön gelegenen Haus mit Garten aufgewachsen. Allein auf der von uns bewohnten ersten Etage gab es ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer, ein Kinderzimmer, ein Schlafzimmer und ein weiß gekacheltes, immer wunderbar duftendes Bad. Auf einem nach Norden über dem Eingang liegenden Balkon wurde im Sommer gefrühstückt. Oft bin ich zum Spielen an die Bega gelaufen, einen kleinen Nebenfluss der Werra, fast ein Bach, der nur wenige hundert Meter entfernt vorbeifloss.

    Dieses relativ privilegierte Leben war bei Kriegsende plötzlich vorbei. Innerhalb weniger Stunden mussten wir raus aus dem Haus, das die Engländer für ihre Offiziere beschlagnahmten. Ich hatte mich wohl gefühlt in der Villa, nun fiel ein Schatten auf die schöne Erinnerung. Mit zwölf, dreizehn Jahren war ich alt genug, um zu erkennen, dass Mutter und Großmutter die Notlage des Zahnarztes ausgenutzt hatten. Ihr Vorgehen verletzte mein Gerechtigkeitsempfinden, ihre Uneinsichtigkeit weckte meinen Zorn. Jedenfalls war ich erleichtert, als wir zahlen mussten.
    Ich setzte das Wissen, das ich in Gesprächen, Büchern und Filmen über den Nationalsozialismus einsog, mehr und mehr als eine Waffe ein, um mich von meiner Mutter abzunabeln. Sie war doch eine Täterin! Dabei war sie nicht einmal in der Partei. Sie hatte doch eine Freundin mit einem SS-Mann! Dabei interessierte sie im Kern ausschließlich das Private. Wenn meine Mutter mit uns Töchtern nach Münster fuhr, um die Auslagen in den eleganten Geschäften zu bestaunen und den Nachmittag im Café Schucan ausklingen zu lassen, einem der schönen, alten Cafés der Stadt, lief ihre Tochter, kaum dass sie ihren Kakao ausgetrunken hatte, hinüber zum Dom, um eine Kerze für den Bischof von Galen anzuzünden. Ich hatte nämlich erfahren, wie mutig dieser Theologe gegen die Euthanasie gekämpft hatte. Mir war eine Geste der Bewunderung wichtig, meine Mutter hat sie missbilligt.
    So habe ich Großmutter und Mutter über Jahre hinweg gereizt. Habe beide wie eine Hornisse immer wieder attackiert. Weil sie schwiegen und im besten Fall abgedroschene Sätze wiederholten wie: »Hitler hat doch die Autobahnen gebaut.« Oder: »Damals konnte man ein Taschentuch fallen lassen, und wenn man eine Viertelstunde später zurückkam, lag es immer noch dort.« Sie ließen mich mit meinen Fragen allein. Ich weiß noch, wie entsetzt ich 1960 nach Hause kam, nachdem ich Erwin Leisers Dokumentarfilm Mein Kampf im Landkino des Nachbarortes gesehen hatte. Ich habe geheult, war fix und fertig und habe Mutter und Großmutter angeschrien: »Wie konntet ihr das zulassen?«

    Die Vorstellung, dass mein Vater in Russland vielleicht in Morde an Zivilisten verwickelt gewesen sein könnte, war für mich entsetzlich. Zu Hause wurde nie über die Verbrechen der Wehrmacht und die Ermordung der Juden geredet. Stattdessen wurde von Armand erzählt, dem französischen Kriegsgefangenen im Dorf meiner Großeltern väterlicherseits: Wie gern er mit meiner Großmutter gesprochen hätte, weil sie als gebildete Frau natürlich das Französische beherrschte. Wunderbar habe er sich bei ihr gefühlt – wie ein Mitglied der Familie. Habe er nicht zwei Adventsengel für mich und meine Schwester geschnitzt? Der Krieg sei für die Opfer der Deutschen doch nicht immer nur schrecklich gewesen. Und immer wieder hörte ich: »Wir armen Deutschen. Wir armen Opfer. Das Haus zerbombt, der Ehemann gefallen.« Da war Vater plötzlich »das Liebste, das ich gegeben habe«.
    Diese doppelbödige Moral hat mich ebenso wütend gemacht wie die stillschweigende Duldung diskriminierender und schließlich mörderischer Politik. Ich mochte das Gegen-den-Strich-Bürsten, das Wider-den-Stachel-Löcken, wie es auch in den fünfziger Jahren in den Programmen der »Stachelschweine« und des »Kom(m)ödchens« geschah. Ich kann mich auch bestens erinnern an Hansjörg Felmy, Johanna von Koczian und Wolfgang Neuss in Wir Wunderkinder und an Martin Held in

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