Endlich wieder leben
Doch noch immer träumte ich, ich säße auf der Schulbank und fürchtete, das Abitur nicht zu bestehen. Immerhin stellte sich wenigstens im Traum das sichere und beglückende Gefühl ein: »Ich will es schaffen, ich gebe nicht auf!«
Schon in Paris in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gab ich nicht mehr auf, obwohl ich mich als Au-pair-Mädchen vom Lande in der riesigen Großstadt gänzlich verloren fühlte. Damals war eine Au-pair-Zeit noch nicht üblich, meine Mutter hat mich geradezu in die Selbstständigkeit gestoßen, weil die Buchhändlerlehre erst ein halbes Jahr nach dem Schulabgang begann. Alles war anders in Paris. Wenn wir samstags auf den Markt gingen, mussten wir uns manchmal
unter die Tische werfen, weil zwischen französischen Polizisten und Algeriern ein Schusswechsel ausbrach. Das war auf der Höhe des Algerienkrieges. Algerien rückte nahe an mich heran, auch weil der Hausherr als Ingenieur in Algerien arbeitete. Das war der Ausnahmefall, in dem ich mich für Politik interessierte.
Nach den Erfahrungen mit unserer Weiberwirtschaft verwirrten mich in Paris außerdem die Verhältnisse in einer richtigen Familie. Ich hatte nie mit einem Mann in einer Wohnung zusammengelebt, war nicht gewohnt, morgens aufzupassen, wenn ich ins Bad ging, und hatte nie gelernt, einem erwachsenen Mann mit gleicher Souveränität zu begegnen wie einer erwachsenen Frau. Männer waren für mich eine Terra incognita. Mutter und Großmutter hatten uns Sex zudem als etwas Gefährliches und Schmutziges dargestellt, ich hatte Angst vor Männern und brauchte lange, bis ich diese Furcht abschütteln konnte.
Als meine Freundinnen in der Stadt anfingen, mit Jungen zu poussieren, saßen meine Schwester und ich im Dorf und hatten niemanden zum Poussieren. Es gab nur Bauernjungen. Und als sich Karlchen, der Sohn vom Schweizer, für mich interessierte, kamen die Großtanten und Urgroßtanten mit rauschenden Seidengewändern zusammen und erklärten: »Der ist nichts für dich. Der passt nicht zu uns.« Ich fand Karlchen nett. Er übte Mathematik mit mir, obwohl er gar nicht auf die Oberschule ging, da sein Vater entschieden hatte: »Du sollst nichts Besseres werden!« Karlchen musste beim Klempner in die Lehre gehen, und ich lernte, dass man nicht schwanger wird, wenn ein Mann einen küsst.
Im Nachhinein denke ich, dass die Deklassierung unserer Familie, die mir nach 1945 so deutlich vor Augen geführt wurde, eine gewisse Abwehr gegen die neue Zeit in mir hervorgerufen hat. Was »früher« gewesen war, erkannte ich noch an den herrschaftlichen Möbeln und dem schweren Silberbesteck. Ich konnte es auch ahnen, wenn meine Großmutter und ihre Schwestern sich am Telefon mit »Frau Justizrat K.« und »Frau Sanitätsrat L.« meldeten. Und wenn sie sogar in den kargen Nachkriegsjahren darauf bestanden, die
Mahlzeiten an einem Tisch mit weißer Tischdecke einzunehmen, die jeden Mittwoch und Sonntag gewechselt wurde. Dieser Stil und diese Ästhetik banden mich noch an die Zeit in Pelkum, als ich in Dortmund bereits meine Buchhändlerlehre absolvierte. Lieber nahm ich jeden Tag eine Stunde An- und Abfahrt in Kauf, als in einem möblierten Zimmer in Dortmund zu wohnen. Die Familie hatte zwar bessere Zeiten gesehen, aber Teile des alten Stils strahlten hinüber in die Nachkriegszeit. So trage ich beispielsweise bis heute einen Goldring, den meine Großmutter auf wundersame Weise aus den Trümmern ihres zerbombten Hauses rettete.
Ich fühle mich einer Welt zugehörig, die bereits untergegangen ist, und habe das Gefühl, nie dort angekommen zu sein, wohin ich zu gehören glaubte. Wahrscheinlich nutze ich meinen Sarkasmus, um die Trauer darüber wegzudrücken.
FRAUENPOLITIK – DAS VORZEIGEPROJEKT DER DDR
D ie Ausgangslage war ähnlich: Auch in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und dem Ostsektor Berlins waren es vor allem die Frauen, die nach Bombenangriffen, Flucht und Vertreibung die Trümmer beiseiteräumten, für ein Dach über dem Kopf sorgten, Hamsterfahrten unternahmen, Tauschhandel betrieben oder irgendwo arbeiten gingen, um sich und die Familien zu ernähren. Es waren auch Frauen, die sich auf die Suche nach versprengten und vermissten Verwandten machten und Alte und Kranke pflegten, deren Zahl aufgrund ansteckender Krankheiten, mangelnder Hygiene und unzureichender medizinischer Versorgung in die Höhe schoss. Auch in der SBZ hatten Frauen lernen müssen, Verantwortung zu übernehmen und auf eigenen Füßen zu stehen,
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