Endlich wieder leben
in die Menge geschossen wurde. 28 Demonstranten wurden einen Monat später wegen Hetze oder Zusammenrottung verurteilt, unter ihnen meine Mutter. Auch sie saß ein Jahr im Gefängnis.
Von all dem wusste ich nichts, als ich im Spätsommer 1953 hochschwanger in das Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf eingeliefert wurde. Etwa zwölf Frauen lagen in einem Saal. Entweder hatten sie ihr Kind schon geboren oder die Geburt stand unmittelbar bevor. Wir mussten nicht arbeiten, erhielten auch etwas besseres Essen als im normalen Haftvollzug und durften unbegrenzt miteinander reden. Das Schlimme aber war: Neben unserem Saal lag das Entbindungszimmer. Bei jeder Geburt hörten wir die Schreie. Manchmal stundenlang. Es gab keine Schmerzspritzen und keine Medikamente, erst recht keine Betäubung bei Dammrissen. Und die Hebamme war grob und bestimmt zwei Zentner schwer.
Drei Tage vor der Geburt verlor ich das Fruchtwasser. Die Hebamme stemmte sich auf meinen Bauch, um das Kind herauszudrücken. Es hat fürchterlich wehgetan. Als meine Tochter dann endlich kam, war sie ganz blau, weil sich die Nabelschnur um ihren Hals gelegt hatte.
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Mehr als eine halbe Million DDR-Bürger protestierten am 17. Juni 1953 gegen Normerhöhungen, Preissteigerungen, für freie Wahlen, Wiedervereinigung und die Freilassung politischer Gefangener. Vor der Leipziger Staatsanwaltschaft wartete die Menge zunächst ruhig auf die Entlassung der politischen schaft wartete die Menge zunächst ruhig auf die Entlassung der politischen Gefangenen. Erst als ein Volkspolizist auf einen Fotografen schoss, der das historische Ereignis festhalten wollte, stürmte die Menge das Gebäude und befreite die Gefangenen gewaltsam.
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Drei Tage vor ihrer Hinrichtung im August 1944 wurde die Widerständlerin Hilde Coppi (sie unterhielt Kontakte zur Roten Kapelle) von ihrem gut sieben Monate alten Sohn getrennt. Hinter antifaschistischer Fassade wandte die DDR allerdings selbst terroristische Methoden gegenüber oppositionellen oder unangepassten Bürgern an. Kinder von Müttern in Haft wurden zwangsweise in Heimen untergebracht, teilweise kamen sie in Familien von Parteigenossen und wurden – etwas später – auch (zwangs)adoptiert.
»Das Gör wollte sich schon umbringen«, kommentierte die Hebamme ungerührt. Es war alles aufgerissen, wurde aber natürlich nicht genäht und ist in Narben zusammen gewachsen. Viel später, als ich mein erstes Kind im Westen zur Welt brachte, fragte mich der Arzt im Krankenhaus, ob ich ein Kind ohne Hilfe geboren hätte.
Doch wie schon im Leipziger Stasi-Gefängnis: Ich schrie nicht im Krankenhaus, ich klagte nicht, ich weinte nicht. Ich dachte nur: Du hältst das aus. Du stehst das durch. Du wirst ihnen nicht die Genugtuung verschaffen, dass sie dich leiden lassen können.
Drei Monate habe ich meine Tochter im Haftkrankenhaus gestillt. Ich war sehr glücklich. Ich wusste von den anderen Frauen zwar, dass ich zurückgehen müsste in die Haftanstalt, das Kind aber nicht mitnehmen könnte. Als mir Ute dann tatsächlich genommen wurde, war es, als würde mir das Herz herausgerissen. Ich habe geschrien. Fast jede Mutter hat geschrien, wenn sie ihr Kind verlor.
Ich kam zur weiteren Strafverbüßung ins Zuchthaus Hoheneck im sächsischen Stollberg. Hier saßen ausschließlich Frauen, die aus politischen Gründen eingesperrt waren, Frauen aus den Speziallagern Sachsenhausen und Bautzen, die noch von den Sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren, aber auch Frauen, die schon vor DDR-Gerichten gestanden hatten.
Da ging es wieder los: Körperuntersuchung, Entlausung, graue Anstaltskleidung einschließlich Kopftuch und Holzpantoffeln. Zu dritt mussten wir uns jeden Tag eine Schüssel Wasser teilen. Morgens um sechs gab es Frühstück, danach mussten wir arbeiten. Ein halbes Jahr verbrachte ich mit fünf anderen Frauen in einer Zelle und war mit Kunststopfen beschäftigt. Danach kam ich in einen riesigen Saal mit 49 Frauen und musste am Band Knöpfe an Kunststoffkittel aus Dederon 88 nähen. Wir arbeiteten in drei Schichten, jeweils acht Stunden, morgens, nachmittags und abends.
Einmal holte mich eine Wachtmeisterin nach einer Spätschicht ins Büro. Sie war klein, hatte rote Haare und eine Nase wie ein
Geier; wir nannten sie Geier-Wally. Ich sollte unterschreiben, dass ich mein Kind zur Adoption freigebe. Sie hielt mir einen Zettel hin: Mein Verlobter hätte sich bereits einverstanden erklärt. Ich blickte auf das Blatt,
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