Endlich wieder leben
sah die Schrift und erklärte: »Das ist nicht die Schrift meines Verlobten, das ist eine Fälschung!«
Die Äußerung brachte mir drei Wochen Dunkelzelle ein. Die Zelle lag im Keller, besaß kein Fenster, kein elektrisches Licht und war gerade so groß, dass ein Bett hineinpasste. Wenn der Kübel herausgeholt wurde und ein fahler Schein durch die Zellentür fiel, ritzte ich mit dem Fingernagel einen Strich in die Wand. So registrierte ich Morgen um Morgen und zählte die Tage. Selbst in der Dunkelheit hielt ich mich ständig in Bewegung, um nicht in Trübsal zu verfallen. Trotz Hunger wollte ich stark bleiben, um durchzuhalten für das Kind. Nie hätte ich es frei gegeben für eine Adoption. Danach hat mich niemand mehr wegen einer Adoption angesprochen. Und Zwangsadoptionen gab es noch nicht.
Geier-Wally war ein Biest. Sie hatte eine geradezu sadistische Freude daran, uns zu triezen. Nicht selten rief sie mich wegen irgendeiner Lappalie von der Arbeit weg in einen Nebenraum und befahl mir, hundert Kniebeugen zu machen. Ich schaffte nie so viele, hörte nur ihre harte Stimme, sobald ich zu straucheln anfing: »Noch mehr! Noch mehr!« Wenn ich irgendwann kraftlos umfiel, schrie sie: »Aufstehen! Weiter arbeiten!«
Als politische Häftlinge waren wir besonderen Schikanen des Wachpersonals ausgesetzt. »Eine Mörderin ist uns lieber als eine Politische«, pflegte Geier-Wally zu erklären. Nahezu alle zwei Wochen wurden die Strohsäcke auf unseren Betten aufgeschlitzt und nach Kassibern und anderen Gegenständen durchsucht. Anschließend hatten wir das Stroh, das sich durch das Liegen längst in Häcksel verwandelt hatte, zurück in die Säcke zu stopfen. Es war den Wachhabenden nur recht, wenn wir beim Kampf um das Stroh in Streit miteinander gerieten.
Zu einer richtigen Keilerei kam es, als wir eine Frau in unserer Zelle der Spitzeltätigkeit verdächtigten, weil sie öfter herausgerufen
wurde. Sie sei befragt worden in eigener Sache, erzählte sie hinterher immer. Doch wir wunderten uns: »Du bist doch längst verurteilt worden, was soll da noch zu klären sein?« Wir wunderten uns auch, warum sie bei der Essensausgabe nicht selten eine zusätzliche Schnitte auf dem Teller hatte. »Weil ich zunehmen soll«, hat sie erklärt. »Wir müssen alle zunehmen«, habe ich geantwortet.
Eines Tages vergriff sich eine Frau an ihr. Andere schlossen sich an, und wer zwischen den eng gestellten Betten keinen Platz mehr fand und nicht selbst draufschlagen konnte, der brüllte: »Verräterin!« oder so was Ähnliches. Die Verräterin steckte viele Faustschläge ein und zog sich beim Sturz gegen das Bett eine breite Kopfwunde zu. Das Wachpersonal zerrte sie aus dem Saal; sie kam nie wieder zurück in die Zelle. Wahrscheinlich wurde sie in ein anderes Gefängnis verlegt. Auch die sogenannte Anstifterin der Keilerei wurde herausgeholt, wir Übrigen erhielten zur Strafe Schlafentzug. Zwei Wochen lang ging nachts das Licht ununterbrochen an und aus, an und aus. Wir sollten nicht schlafen, aber weiter arbeiten.
Einmal bat ich die Geier-Wally um einen Briefumschlag und ein Blatt Papier. In Leipzig hatte ich nicht schreiben dürfen, endlich sollte meine Mutter meinen Aufenthaltsort erfahren. Als die Wachtmeisterin den Namen meiner Mutter auf dem Briefumschlag sah, zog sie die Augenbrauen hoch: »Frau Erler? Die wohnt doch gar nicht mehr in Delitzsch!« Ich war verwirrt. »Das kann nicht sein!« Die Geier-Wally drehte sich um und ließ mich ohne jede Erklärung stehen. Tatsächlich kam der Brief als unzustellbar zurück. Ich war verzweifelt. Andere Häftlinge erhielten Post und manche in großen Abständen sogar Besuch. Wollte meine Mutter nichts mehr von ihrer inhaftierten Tochter wissen?
Ungefähr in jener Zeit erfuhr ich auch vom Tod meines Verlobten. Eine Frau aus Bautzen war nach Hoheneck überstellt worden. »Kanntest du einen Karlheinz O.?«, fragte sie mich, als sie hörte, dass ich aus Delitzsch stamme. Es stellte sich heraus, dass ihr Mann Mithäftling und Freund von Karlheinz gewesen war. Die Nachricht von seinem Tod war für mich ein großer Schlag. Er war doch nicht
alt gewesen, er war doch nicht krank gewesen! Nach meiner Entlassung schrieb ich sofort an seine Eltern, um Genaueres zu erfahren. Sie teilten mir jedoch nur mit, dass ihr Sohn in der Haftanstalt eingeäschert und die Urne bei ihnen an der Ostsee beigesetzt worden sei. Mehr weiß ich bis heute nicht.
Im September 1956, nach drei Jahren und acht Monaten, hatte
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