Endlich wieder leben
schrieb Paul Schallück 1954 in einem Essay über die »deutsche Tüchtigkeit«. »Autos rasen durch die Städte, Häuser schießen aus dem Boden, Straßen werden durchs Land gekerbt, Brücken von Ufer zu Ufer geschlagen, durch Stahlgerüste pfeift der Wind, schon morgen sind sie verkleidet, Hämmern, Rattern, Gebrodel bei Tag und Nacht. Welch Schauspiel!« 89
Die Ruinennot hatte die Tüchtigkeit geweckt.
In nur wenigen Jahren arbeitete Westdeutschland sich hoch aus einer Trümmerlandschaft in Wohlstand und Modernität. Vorbei waren die Zeiten, in denen stets übermüdete Frauen in derben Schuhen, Kopftüchern und Kittelschürzen wie geschlechtslose Wesen herumgelaufen waren und gehamstert, getauscht und Mangel verwaltet hatten. Vorbei die Zeiten, in denen Zeitschriften erklärt hatten, wie aus Kartoffelschalen Knäckebrot oder aus Gerste Ersatzkaffee (»Muckefuck«) hergestellt und Gerichte durch Haferflocken verlängert werden könnten. Sonntags stand der Braten auf dem Tisch, Buttercremetorten und Mayonnaisesalate trieben die Konfektionsgröße des Durchschnittsbürgers nach oben.
Bissig kommentierten die Kabarettisten Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller:
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder …
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder.
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik.
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.
Nach Jahren der Entbehrung entfaltete sich eine Welt, die nicht nur mehr und Besseres bot, nicht nur für fast alle eine Fresswelle mit eingebrannten Suppen und Saucen, Gulasch und Eierlikör, sondern für immer mehr auch einen Hauch von Weite, eine Prise Luxus und ein wenig Frivolität. Peter-Stuyvesant-Zigaretten versprachen den »Duft der großen, weiten Welt«, eine junge blondgelockte Frau im schulterfreien Kleid riet: »Dein Sekt sei Deinhard.« Und große Strumpffabriken wie Ergee, ARWA, ELBEO, die vor dem Krieg von Sachsen aus in alle Welt exportiert hatten, versprachen von neuen westdeutschen Standorten mit Damenfeinstrümpfen aus Perlon den Einzug in die Welt des Glamour. Werbeträgerinnen wie Hildegard Knef, Romy Schneider und Nadja Tiller lebten es vor.
Auch die Männer partizipierten am zivilisatorischen Fortschritt der neuen Kunstfasern. Nylonhemden knitterten nicht, trockneten schnell, wiesen allerdings nach einiger Zeit einen deutlichen Gelbstich auf und verhinderten den Luftaustausch – für geruchsempfindliche Menschen ein gewichtiges Manko.
Das Wirtschaftswunder kam für alle sichtbar, doch nicht jeder hatte gleichen Anteil daran. Ein Fünftel des Wohnraums war im Krieg zerstört worden, in den Städten sogar bis zur Hälfte. Die Bevölkerungszahl hingegen hatte sich durch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den verlorenen deutschen Ostgebieten erhöht, der Flüchtlingsstrom aus der DDR hielt weiter an. Nicht nur Alleinstehende, auch mehrköpfige Familien lebten zur Untermiete. Noch 1960 war trotz eines öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbauprogramms ein Sechstel der Wohnungen mit mehr als einem Haushalt belegt. 90 Die Familie des späteren Bundespräsidenten Horst Köhler beispielsweise, die 1945 aus dem besetzten Polen und 1953 aus der DDR geflüchtet war, lebte bis 1957 in westdeutschen Flüchtlingslagern.
Bild 16
Trautes Heim, Glück allein. Mochten Unterkünfte auch noch knapp sein und sich mehrere Familien eine Wohnung teilen müssen, so schienen die meisten Bundesbürger mit ihrem (noch) bescheidenen Zuhause zufrieden. Wer stetig nach Höherem strebe, so der Sinnspruch auf dem offensichtlich gestellten Foto, könne auf Segen für das Vollbrachte hoffen. Und diese Hoffnung erfüllte sich für viele im Wirtschaftswunderland tatsächlich. Ende der 1950er Jahre zogen die Löhne merklich an, die Wochenarbeitszeit sank von fast 50 auf gut 46 Stunden.
Ihre Barackenkolonie in Bad Segeberg sei »irgendetwas zwischen Russland-Sibirien und Schrebergartensiedlung« gewesen, schrieb Karin Fruth über die Lage in einer dieser Behelfsunterkünfte. »Die Bewohner waren Flüchtlinge oder bunt zusammengewürfelte Menschen am Rande der Gesellschaft, eine brisante Gemengelage.« Ihre Familie wohnte in einem winzigen Steinhäuschen, für die Kinder war die Terrasse mit einer eingesetzten Fensterfront als Zimmer hergerichtet worden. Das Wasser musste von einer hundert Meter entfernten Pumpe geholt werden. »Im Winter war es furchtbar, das
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